Die Welt wird immer komplizierter. Das Leben stellt uns ständig vor neue Fragen. Bücher haben Antworten! Und ein Gedicht kann den Himmel aufhellen.

Gedicht des Monats




SEHNSUCHT NACH EINER KLEINEN STADT

… Jetzt müßte man in einer Kleinstadt sein
Mit einem kleinen Marktplatz in der Mitte,
Wo selbst das Echo nächtlich leiser Schritte
Weithin streut jeder hohle Pflasterstein,

Wo vor dem Rathaus rost´ge Brunnen stehen
In einem toten, längstvergessnen Stil,
Wo selbst aus Erz die Statuen mit Gefühl
Des abends Liebespaare wandeln sehen,

Wo alte Höfe unentdeckt noch träumen,
Als wären sie von einer andern Welt,
Nur ab und zu ein Dackel leise bellt,
Und blonde Kinder spielen unter Bäumen.

Da blühn Geranien, Tulpen und Narzissen
Vor Fenstern winzig wie im Puppenhaus.
Zum ziegelroten Giebeldach heraus
Hängt buntkariert ein bäurisch Federkissen.

Hier haben alle Menschen immer Zeit,
Als machte das Jahrhundert eine Pause.
Hier sitzt man noch auf Bänken vor dem Hause.
-Und etwas abseits gibt´s noch Einsamkeit.

Nichts stört die klare Stille in der Nacht.
Wie unbegreiflich nah sind hier die Sterne …
Gespenstergleich verlischt die Glaslaterne,
Wenn familiär der Mond herunterlacht.

Da scheint uns – fern von allem – vieles glatt,
Was man zuvor mit anderm Maß gemessen.
Man könnte wohl so mancherlei vergessen
In einer solchen braven kleinen Stadt …

Mascha Kaléko

aus
„Ich tat die Augen auf und sah das Helle“
Gedichte und Prosa
Mascha Kaléko
ausgewählt und mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann
dtv Verlag
250 Seiten
20,- Euro