Freunde sind manchmal die bessere Familie
Isabel Bogdan, bestens bekannt durch ihren Bestsellerroman „Der Pfau“, nähert sich in ihrem neuen Roman mit viel Humor dem Thema Alter. Sie lässt vier verschiedene Charaktere in unterschiedlichen Lebenslagen in einer Wohngemeinschaft zusammenleben. Als Constanze neu hinzukommt, scheint sich alles zu ändern. Nun müssen alle ihre bisherigen Lebensentwürfe hinterfragen und entscheiden, ob sie Ihre Wohnsituation als Wahlfamilie oder doch nur als Zweck-WG-Bewohner betrachten. Vier grundverschiedene Menschen raufen sich in einem virtuos komponierten Roman zusammen, wer weiß, vielleicht sieht so die Wohnform der Zukunft aus?
Thomas Mahr
Isabel Bogdan
„Wohnverwandtschaften“
Kiepenheuer & Witsch Verlag
256 Seiten
24,- Euro
Anatomie eines Abends
Stellen Sie sich vor: Ein Abend, mehrere Gäste sind eingeladen. Es läuft ausgezeichneter Jazz, „Jazz für Jazzliebhaber mit wenig Ahnung und viel Geschmack“. Man trifft sich zu einem Aperitif, Hunger kommt auf, die Geschichte nimmt langsam an Fahrt auf… Und dazwischen, wie eingestreut, immer wieder eine kleine Zutatenliste – die Dinge, die man zur Zubereitung der in der Erzählung vorkommenden Gerichte und Mixgetränke benötigt, quasi ein Roman mit Zutaten. Essen spielt in einigen Abschnitten dieses großartigen Romans eine herausragende Rolle. Geschrieben hat dieses geistreiche Werk Teresa Präauer, schon mehrfach für ihre Bücher ausgezeichnet. Sie geht gewitzt mit Sprache und der sich verändernden Bedeutung von Worten um. Dabei spielt auch der heutige Umgang mit Wahrheit und Realität in Zeiten des Internets, der Social-Media-Kanäle und digitaler Filter eine gewichtige Rolle. Das, was die anderen bei der realen Einladung wie im Netz über die Protagonisten denken könnten, wird schon vorab durchdekliniert, um das erwünschte Bild nach Außen darstellen zu können: Alles ist so genau und fein von Teresa Präauer beobachtet. Doch digitale Selbstentwürfe entsprechen nun mal nur äußerst selten dem analogen Sein der Menschen… Dieses Buch ist ein großartiger Blick in den Spiegel für die Menschen unter 40 Jahren und gleichzeitig ein ganz anderes kulinarisches Panoptikum. Lassen Sie sich darauf ein!
Martin Schick
Teresa Präauer
„Kochen im falschen Jahrhundert“
Wallstein-Verlag Göttingen
198 Seiten
22,- Euro
Eine Zeitreise
Der österreichische Schauspieler und Kabarettist Robert Palfrader hatte viele Berufe, bis er schließlich den Weg vor die Kamera bzw. auf die Bühne fand. In Deutschland dürfte er am Ehesten durch die „Wir sind Kaiser“-Sendungen des ORF bekannt sein, die auch im deutschen Fernsehen gezeigt wurden und Kultstatus erreichten. In diesem wunderbaren Buch erzählt er uns die Geschichte seiner Urgroßeltern und Großeltern, die aus dem ladinischen Teil Südtirols stammen. Die Ladiner bilden heute eine eigene kleine Minderheit in Italien, Ortsnamen wie Alta Badia, Gröden oder Cortina d´Ampezzo geben eine ungefähre Vorstellung, wo sie leben. Palfrader schildert das Leben seiner Vorfahren mit all seinen Härten, Wendungen und auch glücklichen Momenten sehr lebendig. Vieles davon ist wahr und hat sich tatsächlich so zugetragen, manches sicher dazu mit viel Fantasie ergänzt. Er berichtet aus einer Zeit, die noch gar nicht so lange her ist und doch heute unvorstellbare Zustände kannte. So schreibt er beispielsweise, dass „in diesen Familien nur in den seltensten Fällen über Gefühle gesprochen wurde. Die hat man, so gut es ging, „mit Rosenkränzen erschlagen“. Half das nicht, griff man zum Schnaps.
Als die ersten Reisenden zum Schifahren kommen, stößt das nur auf Unverständnis: Wie kann man so etwas tun, ohne es zu müssen, den Berg herunterfahren und dabei nicht einmal Heu mitnehmen? Dieses Buch ist absolut lesenswert in einer sehr lebendigen Erzählweise geschrieben; hat man einmal angefangen, mag man eigentlich gar nicht mehr die Lektüre unterbrechen. Reisen sie in Gedanken mit in so nahe und doch so archaische Zeiten.
Martin Schick
Robert Palfrader
„Ein paar Leben später“
Carl Ueberreuter Verlag Wien 2024
159 Seiten
22,- Euro
Was passiert, wenn ein „altes Fass“ geöffnet wird?
Der erste Kriminalroman „Das Schweigen des Wassers“ von Susanne Tägder spielt in einem Ort tief in mecklenburgischer Provinz wenige Jahre nach dem Fall des „eisernen Vorhangs“. Hauptkommissar Groth kommt aus Hamburg in die Kleinstadt Wechtershagen, er soll dort als „Aufbauhelfer Ost“ wirken, wie es oft in der Zeit nach dem Mauerfall üblich war. Die Zusammenarbeit mit den teilweise schon Jahrzehnte im Dienst stehenden ehemaligen Volkspolizisten ist nicht immer einfach. Zusätzlich ist Groth auch noch in der Fortbildung der „Ost-Kollegen“ tätig, er ist für das „Modul Vernehmungslehre“ zuständig. Entsprechend ist für ihn Sorge um die Zukunft und Wut bei den ehemaligen Vopos spürbar, anfangs ist die Zusammenarbeit auf das Notwendigste beschränkt.
Doch eines Tages taucht ein Mann barfuß bei Groth auf und bittet um Hilfe, er sagt: „Jemand ist hinter mir her“. Weiter will er sich vorerst nicht über die Art der Bedrohung äußern, doch er ist zu einem Treffen in der kommenden Woche bereit, um konkret die Gefahr zu benennen. Bevor es so weit kommt, ist der Mann – tot. Ertrunken in einem See, wo er doch als Bootsverleiher ein sehr guter Schwimmer gewesen war. Weitere Ungereimtheiten kommen dazu, und irgendwann wird klar: Das Ganze hat wohl etwas mit einem „Altfall“ vor einem Jahrzehnt zu tun. Bei seinen Kollegen beißt Groth auf Granit: Ein „Altfall“ wird nicht wieder aufgerollt, dass Fass ist zu, und alte Fässer soll man zulassen.
Nun kommt aber noch eine Frau ins Spiel: Regine Schadow, die den Barfüßigen gut kannte und gleichzeitig in irgendeiner Weise mit dem „Altfall“ verbunden sein muss. Die Geschichte kann Groth nicht einfach auf sich beruhen lassen…
Susanne Tägder hat zuvor schon mehrere ausgezeichnete Texte vorgelegt. „Das Schweigen des Wassers“ ist ihr Erstling als Krimi. Dieses Debut in einem für sie neuen Genre ist ihr hervorragend gelungen. Atmosphärisch dicht erzählt ihr Werk von den Zeiten des Umbruchs, von Entwurzelung und den großen Unsicherheiten in den Jahren der deutschen Wiedervereinigung. Der Fall, der teilweise auf realen Ereignissen beruht, und seine Facetten erscheinen nach und nach vor unserem inneren Auge. Aus einzelnen Beobachtungen entstehen Bilder, in denen es aber auch bewusst bleibende Leerstellen gibt. Dieser Krimi wird sie in seiner Vielschichtigkeit, seinen Erzählsträngen und den Lebensgeschichten der agierenden Personen immer mehr einnehmen und fesseln. Der beste Krimi der letzten Zeit, und eine Geschichte, die uns berührt.
Martin Schick
Susanne Tägder
„Das Schweigen des Wassers“
Kriminalroman
Tropen Verlag 2024
341 Seiten
17,- Euro
In den Weiten Afrikas
Hunter White, ein schwerreicher Immobilienhändler und Investmentbanker, hat seit Kindesbeinen die Jagdleidenschaft seines Vaters und Großvaters im Blut. Als erfahrener Großwildjäger reist Hunter nach Afrika, um sich und seiner Frau ein besonderes Geschenk zum Hochzeitstag zu machen. Denn endlich hat er die Erlaubnis seine „Big Five“ zu vervollständigen. Denn nach Elefant, Löwe, Schwarzbüffel und Leopard hat er nun endlich die Lizenz im Reservat einen alten Nashornbullen zu erlegen. Seine Frau erhält den Kopf als Jagdtrophäe, um ihre Wohnung damit zu dekorieren. Als es endlich soweit ist, kommen seiner Jagdgesellschaft Wilderer zuvor. Enttäuscht zieht sich Hunter während der Ermittlungen in die Lodge zurück, bis ihn ein besonderes Angebot näher gebracht wird: Big Six.
Schoeters Sprache zieht einen sofort in die Weite und Hitze Afrikas. Sie macht die Anspannung von Jäger und Beute erlebbar. Wie Hemingway, dessen Jagdschilderungen ab und an einfließen, lebt Hunter seine Obsession in vollen Zügen aus. Er möchte seiner Beute kurz vor dem Ziehen des Abzugs in die Augen sehen, sich ebenfalls einer Gefahr aussetzen, kein „Fast-Food-Hunting“ angefütterter Tiere aus dem Jeep heraus erleben. Dennoch nimmt er Afrika als eine Art Vergnügungspark wahr. Die Argumente der Naturschützer werden im kapitalistischen postkolonialen Sinne mit dem Nutzen aus den teuer erkauften Lizenzen für die Parkverwaltung und die indigenen Stämme, denen man sich weiterhin überlegen fühlt, am nächtlichen Lagerfeuer wegdiskutiert. Alles scheint käuflich, dabei moralisch vertreterbar – auch ein Big Six? Ein überraschender, obskurer und bis zur letzten Seite spannender Roman, den man als Aufforderung lesen kann über eigene Denkmuster nachzudenken.
Christine Naderer
Gaea Schoeters
„Trophäe“
Paul Zsolnay Verlag
256 Seiten
24,- Euro
Was macht eine Frau zu Mörderin?
Die Frau mit norwegischen Wurzeln, die zur ersten Serienmörderin in den USA wurde, gab es wirklich. Belle Guness heißt die Mörderin wie auch die Protagonistin von Victoria Kielland Roman „Meine Männer“, eine Frau, die 1881 nach Amerika auswanderte und vermutlich 1908 starb. Wie traumatisch müssen die Bedingungen für sie auf einem Bauernhof in Norwegen gewesen sein, als sie sich als Magd in den Hoferben unsterblich verliebte und aufs bitterste enttäuscht wurde. Kielland hat aus dieser mörderischen Geschichte einen aufregenden Roman gemacht. Die norwegische Theaterwissenschaftlerin hat aber aus der Serienmörderin keine schaurige Fallstudie oder gar einen Horrorthriller entwickelt, sie hat sich mehr für die Psyche, das Innenleben ihrer Protagonistin interessiert und so ist ein völlig unkonventioneller Roman entstanden. Hinter dem Titel „Meine Männer“ verbergen sich mehr als zwei Dutzend Morde, die ihre Erklärung in der traumatischen Erfahrung in der harten, gewaltsamen Zeit in Norwegen finden. Die Opfer mussten dafür einstehen, was ihr ein Mann angetan hat…
Thomas Mahr
Victoria Kielland
„Meine Männer“
Tropen Verlag
192 Seiten
22,- Euro
Ein sterbendes Dorf
Wenn man als Tourist heute durch die Haute-Provence fährt, ahnt man kaum noch etwas von der Armut, die dort vor 100 Jahren herrschte. Die Dörfer kämpften mit den Naturgewalten und ein Fluss, wie die provenzalische Asse, bedeutet zugleich Segen und Fluch. In einem alten Bergdorf im Roman von Maria Borrély brennt nur noch ein Feuer, soll heißen, es lebt dort oben nur noch die sture, alte Pélagie mit ihrer Enkelin Berthe, einer Ziege und einer Handvoll Hühner. Sie weigert sich ins neue Dorf, ins fruchtbare Tal flussabwärts zu ziehen, misstraut dem Schutz eines neuen Hochwasserdamms und sie sollte recht behalten.
Geschrieben hat diesen kleinen, aber ungemein intensiven Roman „Das letzte Feuer“ Maria Borrély, so bilderreich wie die beschriebene Natur. Die 1890 in Marseille geborene Schriftstellerin gehörte zum Dichterkreis um Jean Giono. Ihre Bücher sind eine Liebeserklärung an die karge Landschaft der Haute-Provence, aber auch ein Dokument über den Wandel der Zeit, wie die Moderne versucht, die Natur zu besiegen und daran scheitert.
Thomas Mahr
Maria Borrély
„Das letzte Feuer“
Kanon
128 Seiten
20,- Euro
Wie bleiben oder werden wir zuversichtlich in diesen fragilen Zeiten?
In einem Brief an ihre fast erwachsenen Enkel erklärt Gabriele von Arnim was ihr persönlich Zuversicht bedeutet und wie wichtig sie sie in diesen bedrohlichen, düsteren Zeiten für die Menschen einschätzt. Sie erzählt woraus sie als ängstlicher, nicht an einen Gott glaubenden Menschen ihre Zuversicht nimmt: Vogelgezwitscher am Morgen, Malerei, Literatur, Wolkenformationen, im Café sitzen und Eis essen und, und, und. Parallel dazu spricht sie mit Freunden und Bekannten zu deren Haltung zum Thema Hoffnung, Zuversicht und Sinnhaftigkeit in diesen Zeiten. Ebenso taucht sie immer wieder in die ihr wichtigen Bücher ein, zitiert kurze Gedanken und rezitiert Gedichte. Gibt ihren Enkeln Tipps, welche Bücher sie vielleicht irgendwann lesen sollten, um die Großmutter besser zu verstehen. Und so schließt der Brief an die Enkel mit einem Zitat von Albert Camus – …“das muss jetzt sein:
„In den Tiefen des Winters erfuhr ich schließlich,
dass in mir ein unbesiegbarer Sommer liegt.“
Seid in dem Sinne sehr sommerlich umarmt!“
Ein schmales Büchlein von 70 Seiten, das ich persönlich noch sehr oft zur Hand nehmen, aber vor allem verschenken werde. Denn die Kunst der ZUVERSICHT muss wieder entdeckt und geübt werden.
Christine Naderer
Gabriele von Arnim
„Liebe Enkel oder Die Kunst der Zuversicht“
Kjona Verlag München
80 Seiten
18,- Euro
Was bleibt, wenn einem der Vater durch die Finger rieselt?
Eine Tochter kämpft für und mit ihrem Vater gegen seinen „bösen Kumpel“, der sich in seiner Lunge breit gemacht hat. Schonungslos schildert die Tochter die Realität eines Krankhausaufenthaltes als türkischer Gastarbeiter der ersten Generation in Deutschland. In manchen Stunden wünscht sie sich nichts sehnlicher als einen Samowar auf dem Krankenausgang, um ein paar Minuten, ein Tulpenglas lang, mit dem Duft von schwarzem Tee mit Bergamotte-Aroma das Gefühl von Fremdheit vertreiben zu können. Daneben meint man förmlich die Düfte der mitgebrachten, täglich selbst gekochten Speisen für den Vater, der nichts mehr isst, zu riechen. Um der Sprachlosigkeit, die sich Angesicht der Unfassbarkeit der Krankheit und des nahenden Todes ausgebreitet hat, etwas entgegen zu setzen, erzählt der Vater Geschichten, die bereits seit Generationen in ihrer Familie erzählt werden. Mely Kiyak schafft ein Mut machendes Buch für alle Angehörigen, die einen lieben Menschen auf einem schweren Weg begleiten.
Christine Naderer
Mely Kiyak
„Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an“
Hanser Verlag
224 Seiten
23,- Euro
Eine kulinarische Herausforderung
Stellen sie sich vor: Sie leben schon seit Jahren in Italien, sind mit einer Italienerin verheiratet, werden von ihrer gesamten Familie wunderbar aufgenommen und doch misstrauen fast alle Familienmitglieder ihren Kochkünsten. Stefan Maiwald, der mit seiner Frau und zwei Kindern in Grado, umgeben von einer herrlichen Lagune, lebt, ist es genau so ergangen. So beschließt er: Alle haben ihn herausgefordert, und nun wird er es ihnen an seinem Geburtstag zeigen. Er wird sie mit ihren Lieblingsgerichten aus dem Veneto und dem Friaul bekochen und endlich überzeugen!
Dazu sucht er für die geplanten Speisen und Getränke die besten Köchinnen und Köche sowie Erzeuger zwischen Conegliano im Valdobbiadene, wo der Prosecco herkommt, über Venedig bis nach Triest auf. Er erzählt in lockerem, humorvollen Ton über seine Begegnungen, Erfahrungen und Geschmackserlebnisse auf dem Weg. Nebenbei werden immer wieder typische Rezepte der beiden Regionen mit eingeflochten. Das Buch erinnert vom Inhalt und Erzählstil betrachtet öfters an „Maria, ihm schmeckt`s nicht!“ von Jan Weiler, ist dabei aber fundierter geschrieben. Stefan Maiwald hat sich wirklich auf die italienische Lebensweise eingelassen. Lesen sie dieses sehr vergnügliche Werk, das so schöne Geschichten aus dem Leben erzählt, doch Achtung – das Lesen dieses Buches kann jederzeit zu akutem Hunger und Kochattacken führen!
Martin Schick
Stefan Maiwald
„Die Spaghetti-vongole-Tagebücher“
Styria-Verlag Wien-Graz 2024
198 Seiten
25,- Euro
Reise in eine unbekannte Welt direkt vor der Haustüre
Waren sie schon einmal in einer Gegend namens Neun-Drei? Gemeint ist das französische Département Seine-Saint-Denis, das sich in der Pariser Banlieue befindet, also jenem Vorortgürtel, der jenseits des Autobahnrings um Paris liegt. Die Autorin Anne Weber und ihr Freund, der im Buch Thierry genannt wird, betreten wandernd diese fernen Welten in unmittelbarer Nähe der „Stadt der Liebe“ Paris. Anlass dazu ist vordergründig die Suche nach Drehorten für einen Dokumentarfilm. Doch letztlich geht es darum, dieses so völlig andere Frankreich zu erkunden: Eine Welt der Wohnmaschinen und Wohnmonster, der Müllberge und der Menschen, die zwischen diesen leben (müssen). Thierry, der Begleiter der Autorin auf den ausgedehnten Streifzügen, hat einen aus Algerien stammenden Vater und eine französischstämmige Mutter. Der Vater leugnete aber immer seine algerische Herkunft und versuchte, so französisch wie nur irgend möglich zu wirken. Die beiden Wandernden schließen an die große Tradition der Pariser Flaneure an, erkunden dabei aber „Terra incognita“ für die meisten Franzosen. Aufgelockert wird das Ganze zusätzlich durch fiktive Dialoge wie kurze Theaterszenen, in denen beide das Gesehene verarbeiten und sich überlegen, wie wohl ihre Pariser Freunde das Ganze kommentieren würden.
Eine bindende Klammer für das ausgezeichnete Buch ist ein immer wiederkehrender Besuch in einem Café in der Banlieue, das nach und nach zu einem Stück Zuhause wird. Es ist ein Zufluchtsort für alle, die in dieser Umgebung aus abgehalfterten Wohnblocks und Sperrmüll leben müssen, und gleichzeitig erstaunlicherweise ein Platz, an dem Menschen algerischer Herkunft, Franzosen, die im Algerienkrieg gekämpft haben und weitere Nationalitäten zusammen an der Theke stehen und reden können. Was für ein großartiges, zum Nachdenken anregendes und zugleich auch absurderweise kurzweiliges Buch, das uns nicht unberührt lässt. Ein ganz anderer Blick auf Frankreich jenseits aller Klischees und ein außergewöhnliches Wandertagebuch – Danke, dass ich dieses Buch lesen durfte!
Martin Schick
Anne Weber
„Bannmeilen“
Ein Roman in Streifzügen
301 Seiten
Matthes und Seitz Berlin 2024
25,- Euro
Niederlande zu Gast auf der Leipziger Buchmesse
„Antoinette“ heißt der kleine Roman des holländischen Autors Robbert Welagen. Mondäner Schauplatz der Handlung, die nur einen einzigen Tag umfasst, ist eines der berühmten Thermalbäder in Budapest. Die Geschichte selbst ist aber in einem schlichten Erzählton geschrieben. Ein Mann wartet auf seine ehemalige Frau. Es wird aber schnell klar, dass diese nicht kommen wird. Es ist Jahre her, seit die Beziehung der beiden gescheitert ist. Der nicht zu erfüllende Kinderwunsch der beiden entzweit das Paar, das anfängliche Glück zerbricht. Obwohl der Roman einem präzisen Bericht gleichkommt, schwingt doch viel Wehmut und Melancholie mit. Die Gedankengänge des Erzählers sind für den Leser so gut nachvollziehbar und so wir er für den Protagonisten eingenommen.
Thomas Mahr
Robbert Welagen
„Antoinette“
148 Seiten
Verlag Freies Geistesleben
20,- Euro
Haben sie nicht irgendwas Lustiges?
Eine Frage, die uns in letzter Zeit immer häufiger gestellt wird. Ja, haben wir. Zum Beispiel der Roman des spanischen Autors Isaac Rosa mit dem Titel „Ein sicherer Ort“. Einen solchen zu finden, ist ein großer Wunsch in gefährlichen Zeiten. Manches Mal bleibt einem bei diesem Buch auch das Lachen im Halse stecken angesichts der weltpolitischen Lage. Der Ich-Erzähler im Buch weiß Rat. Er verkauft Bunker für das kleine Geld des Mittelstands, geht dafür von Haus zu Haus und erlebt die skurrilsten Geschichten. Messerscharfe Satire, urkomisch porträtiert Isaac Rosa eine Gesellschaft, die unter dem Motto lebt: „rette sich wer kann“
Thomas Mahr
Isaac Rosa
„Ein sicherer Ort“
320 Seiten
Liebeskind Verlag
24,- Euro
In der Buchhandlung Mahr erhältlich!
Die 80er – zurzeit das meistgefeierte Jahrzehnt
Die amerikanische Filmemacherin und Autorin Tamar Halpern räumt ganz schön auf mit dem Klischee, dass damals die Welt noch in Ordnung war. Mit „California Girl“ beschreibt sie eine 14jährige, die hin- und hergerissen wird zwischen Hippie-Mutter und Professoren-Vater. Die „freie Liebe“ hat die Eltern auseinandergerissen. Die Lügen der Erwachsenen und deren Dekadenz kann das Mädchen nur mit Marihuana und dem Soundtrack jener Jahre ertragen. Sie probiert Outfits, Identitäten und Drogen bis sie der Wahrheit näherkommt und das hipe Leben im Fernando Valley entzaubert.
Thomas Mahr
Tamar Halpern
„California Girl“
304 Seiten
Diogenes Verlag
23,- Euro
Wie schwer es ist, einfach nur zu leben
Die Aufschieberitis, die Prokrastination, hat unseren Helden schwer erwischt. Sein Lebenswerk will sich nicht trotz vieler Ideen nach zehn Jahren so mir nichts dir nichts schreiben. „Mach einfach!“ so die Aufforderung seiner Lebensgefährtin Johanna, die ihn für ein halbes Jahr allein gelassen hat, um sich „mal auf sich zu konzentrieren“. Um sie zurückzugewinnen, soll in der Woche zwischen Weihnachten und Silvester endlich alles Liegengebliebene erledigt werden. Eine To-Do-Liste, die von Bett aufbauen für die Tochter (längst ausgezogen) über das Steuererklärung erstellen (Belege, die Erinnerungen hervorrufen) bis zum Regenrinne säubern (jetzt schneit es auch noch) reicht, ist schnell geschrieben. Schnell verfliegt auch diese eine Woche. Am 31.12. heißt es dann plötzlich alles zu erledigen, hinzukommend die Geschenke einzupacken und den Nudelsalat für den Silvesterabend zuzubereiten (aus Zutaten, die sich nicht wie erwartet im leeren Vorratsschrank befinden). Was unserem Alltagshelden dabei alles durch den Kopf geht in Sachen Leben, Liebe, Kinder, Altwerden und vielem mehr, und mit welchen Tricks er sich durch den Tag und an der Liste Haken für Haken abkämpft, beschreibt Nele Pollatschek intelligent und mit einem wundervollen Augenzwinkern. Nach der Lektüre packen wir es an: das Leben – JETZT!
Christine Naderer
Nele Pollatschek
„Kleine Probleme“
208 Seiten
Kiepenheuer & Witsch Verlag
23,- Euro
Wie die Zeit vergeht
Was unterscheidet ein Meisterwerk von einem guten historischen Roman? Historisch in allen Details korrekt, in wunderbarer, an die Zeit des späten 18. Jahrhunderts angelehnter Sprache verfasst und gleichzeitig fesselnd erzählt, das ist der neue Roman „Der eiserne Marquis“ von Thomas Willmann. Viele LeserInnen werden sich noch an den „Alpen-Western“ „Das finstere Tal“ vom gleichen Autor erinnern, ein Buch, das man ab einem bestimmten Punkt der Erzählung einfach nicht mehr zur Seite legen konnte, und das bald darauf ebenso kongenial verfilmt wurde. Es dauerte mehr als 10 Jahre, bis nun der nachfolgende Roman von Willmann erschienen ist – und das Warten hat sich gelohnt!
Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, dessen echter Name nie genannt wird, im Stile von späten Lebenserinnerungen. Aufgewachsen in strengen, einfachen, moralisch begrenzten Verhältnissen in der Provinz des Habsburgerreichs, kommt unser Protagonist durch Fürsprache in das große Wien. Dort erlernt er das Uhrmacherhandwerk und beginnt mit Experimenten, die Sprache und das Sprechen mechanisch umsetzen zu können, ja gar die Lebendigkeit des Sprechens zu imitieren. Was dann folgt, ist eine große, unmögliche Liebe, eine Flucht und Aufnahme im Heer des Preußenkönigs und schließlich ein neues, zweites Leben bei einem Marquis in Paris. Diesem Marquis rinnt regelrecht die Lebenszeit durch die Finger, und so machen sich er und unser Held auf die verzweifelte Suche danach, was das Leben ausmacht und wie die Vergänglichkeit des Seins aufgehalten werden kann. Leitmotive dieses außergewöhnlichen, herausragenden Buchs sind die Zeit in ihren Formen und Auswirkungen, dann das Leben und seine Vergänglichkeit und schließlich das Ego eines Menschen mitsamt dessen Begrenzungen, deren Überschreitung katastrophale Folgen haben kann.
Zu guter Letzt werden sie vielleicht fragen: Das klingt ja alles sehr reizvoll und unbedingt lesenswert, aber sind 920 Seiten nicht zu viel? Ich kann dazu nur sagen: Wer Thomas Willmann und seine Sprachliebe kennt, wird erkennen, dass dieses Buch nicht um ein Wort zu lange geraten ist!
Martin Schick
Thomas Willmann
„Der eiserne Marquis“
Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2023
920 Seiten
36,- Euro
Das Leben könnte so schön sein…
Zur falschen Zeit am falschen Ort auch noch das Falsche gesehen, das wird für den kroatischen Personenschützer Jadran Grabarek zum lebensbedrohlichen Problem. Der Pfarrer aus Kindertagen empfiehlt ihm, sich eine Franziskanerkutte überzustreifen und auf einer kleinen Insel vor der dalmatinischen Küste als Mönch auf Erholung zu machen. Herrlich zu lesen, wie der Autor all die Originale auf der Insel beschreibt, den weltgewandten Pfarrer, die herzlichen Nonnen im kleinen Kloster, Kriegerwitwen, einen einstigen Kapitän und viele mehr in deren Lebenswelt der vermeintliche Mönch aufgenommen wird. Wie lange wird das Versteckspiel gut gehen und was passiert, wenn die „Außenwelt“ plötzlich Einzug hält auf der Insel? Der Wunsch, das ehemalige Schulhaus in ein Kulturzentrum zu verwandeln, zieht nicht nur Publikum auf die Insel, sondern auch Spekulanten, die das große Geschäft vermuten.
Ein so wunderbarer Sommerroman mit dem Duft der Insellandschaft, dem Spiel des Meeres mit dem Sonnenlicht, dem Geruch von Fischsuppe und dem unbeschwerten Espressogenuss im Café an der Hafenmole.
Thomas Mahr
Edi Matic
„Abtrünniger vor Inselpanorama“
256 Seiten
Verlag Edition CONVERSO
24,- Euro
Was von den letzten Tagen bleibt
Wolf Haas, der großartige Autor der „Brenner“-Krimis und von wunderbaren Romanen wie beispielsweise „Das Wetter vor 15 Jahren“, legt nun ein neues Werk vor. In diesem Buch geht es um die letzten Lebenstage seiner Mutter und sein Verhältnis zu ihr und ihrer Geschichte. Ausgangspunkt für ihn ist eine große Irritation: Seine Mutter, die sich, seit sich Haas erinnern kann, so äußerte, dass es ihr schlecht ginge, fordert ihn auf, ihre Eltern mit dem Handy anzurufen und ihnen zu sagen, dass es ihr gut gehe. Wieso will sie das gerade zu diesem Zeitpunkt? Dies nimmt Haas zum Anlass, sich mit dem Leben der Mutter auseinanderzusetzen, auch deshalb, weil er verstehen möchte, wie sich das auf sein Leben und Denken ausgewirkt hat. Seine Mutter, die immer nur ans „sparen, sparen, sparen“ dachte, weil sie doch von etwas Eigenem träumte, und wenn es nur eine klitzekleine Wohnung wäre. Doch wenn sie endlich das Geld für die Anzahlung vermeintlich beieinanderhatte, waren die Preise so stark gestiegen, dass das Geld wieder nicht reichte. So wächst Haas mit seiner Mutter in einer winzigen Wohnung für bedürftige Leute mit Blick auf den Friedhof auf, und das auch nur, weil seine Mutter einst einen Bettelbrief geschrieben hatte.
Dieses Buch ist wohl das persönlichste Werk von Wolf Haas. Er hat es in seiner eigenen, immer sofort erkennbaren Sprache geschrieben, ohne aber die gleichen Muster wie in den „Brenner“-Büchern zu verwenden. So ist eine anrührende und gleichzeitig lakonische Erzählung entstanden, die auf eine besondere Art und Weise das Leben und die Leistung der Mutter des Autors beleuchtet. Was macht also Wolf Haas, als seine Mutter ihn auffordert, bei ihren Eltern anzurufen und ihnen auszurichten, dass sie ihrem Vater einen Brennnesseltee gegen die Verkühlung mitbringen wird? Er verspricht ihr natürlich, dies zu tun.
Martin Schick
Wolf Haas
„Eigentum“
157 Seiten
Hanser-Verlag München 2023
22,- Euro
Warum hat sie sich nicht einfach gewehrt?
Die Protagonistin mit dem geheimen Namen wächst in Frankfurt-Sindlingen am Rande eines Industrieparks auf. Dort, wo es Industrieschnee schneit und die Anwohner*innen als Ausgleich für den rieselnden Feinstaub Gutscheine für die Autowaschanlage erhalten. Das verschüchterte Mädchen wächst in einem Messie-Haushalt auf, in welchem der regelmäßig aggressiv-betrunkene Vater die Lautstärke und Bewegungen der Familienmitglieder bestimmt. Schon in der Grundschule erfährt sie, was es bedeutet von den anderen als nicht-deutsch gelesen zu werden, weil ihre Mutter türkischer Herkunft ist – sie selbst aber nicht einmal Türkisch kann. Trotzdem: Auf dem Gymnasium spricht der Französischlehrer mit ihr als hätte sie ebenfalls Probleme mit dem Verständnis deutscher Wörter. Als ihre Schulzeit abrupt mit einem Verweis endet wird ihr mehrfach die kaum zu beantwortende Frage gestellt: Woran hat es gelegen? Gab es einen Auslöser? Ein sehr aktueller Roman über Klassismus, der an vielen Stellen an Edouard Louis, Annie Ernaux und Didier Eribon erinnert und gleichzeitig in einer so klaren, präzisen und dennoch künstlerischen Sprache verfasst ist. Eine fiktive Geschichte, die durchaus so geschehen sein könnte, und viele kritische Fragen an unser Schulsystem und unsere Gesellschaft aufwirft. Auch wenn der Lebensweg der Protagonistin eine emanzipierte Wendung nimmt, bleibt ein berechtigtes Unbehagen in der Luft, das zum Nachdenken anregen sollte.
Saskia Jürgens
Deniz Ohde
„Streulicht“
287 Seiten
Suhrkamp Verlag
18,- Euro
Drei Generationen zwischen Korruption, Perestroika und einer neuen Heimat
Was, wenn der Verlauf deines Lebens ausschließlich von langjährig geplanter und ersparter Bestechung abhängt? Was, wen das Überleben deiner Mutter vom Wohlwollen korrupter Ärzte und einem Händchen für die richtigen Kontakte bestimmt wird? Was, wenn politische Systeme zerfallen und nicht mal das, was du erfolgreich gelernt hast, hilfreich ist?
Die befreundeten Ärztinnen Tatjana und Lena wagen ein neues Leben und siedeln auf der Ukraine nach Deutschland über. Ihre Töchter werden in einer Welt geboren, die völlig anders ist als das, was sie aus ihrer Jugend kennen und wollen eigentlich auch nichts mit ihrer Herkunft zu tun haben. Als Edi widerstrebend zur 50. Geburtstagsfeier ihrer Mutter von Berlin nach Jena fährt, bricht dieser Generationskonflikt auf und die beiden Mütter skizzieren und reflektieren ihre Vergangenheit. Ein Roman, der über drei Generationen erzählt und schließlich deutlich hervorhebt: Alle Beteiligten teilen sich diese Geschichte. Hier wird die Frage aufgeworfen, wie sehr vergangene Generationen unsere Einstellungen prägen, egal ob wir nachahmen oder dagegen protestieren. Am Ende zählt nur eins: Einander zuzuhören. Eine Mütter-Töchter-Freundinnen-Geschichte mit berührenden Charakteren und ein Roman, der Einblicke erlaubt in die Gesellschaft und Historie der Sowjetunion.
Saskia Jürgens
Sascha Marianna Salzmann
„Im Menschen muss alles herrlich sein“
384 Seiten
Suhrkamp Verlag
24,- Euro
Wo das Proletariat den Schmutz der Reichen entfernt
„Nur wer jemals die Aufgabe gehabt hat, Flecken zu entfernen, weiß, was sie bedeuten. Sie müssen auf jeden Fall verschwinden.“ – davon hängt nicht nur ab, ob die Kunden wiederkommen, auch die Existenz der Arbeiter*innen der Großwäscherei Phönix ist an das Abwenden eines Versagens geknüpft. Wer hier arbeitet, möchte aufsteigen in ein besseres Leben; weg von der Hitze der Heizkessel, von Dampf der Seifenlaugen und dem ätzenden Gestank der Chemikalien. Weg vom Dreck der Reichen. Weg vom Elend, welches einen in den eigenen vier Wänden erwartet – sofern es so etwas wie ein Zuhause überhaupt gibt. Und weg vom Treten nach Unten und Kuschen nach oben. Doch erwartet einen oben angekommen wirklich das große Glück? Andor Endre Gelléri beschreibt die Belegschaft der Großwäscherei Phönix als eine eigene Gesellschaft - die Unterschicht, in einer ungarischen Großstadt der 1930er Jahre; und beweist sich dabei als ein kluger Beobachter psychologischer und gesellschaftlicher Vorgänge. Die Schilderungen der Eindrücke mischen sich mit beinahe märchen- und visionshaften Bildern, die sich mit ihrer Ästhetik beim Lesen einprägen und ihre Spuren hinterlassen. Im Nachwort erfährt man einiges Interessantes aus Gelléris Leben, das deutliche Parallelen aufweist zu den Schicksalen der Phönix-Belegschaft.
Saskia Jürgens
Andor E. Gelleri
„Die Grosswäscherei“
221 Seiten
Guggolz Verlag
22,- Euro
„Die Geschichte, die wir übergestülpt bekommen…“
Romana arbeitet in einem dunklen, kalten, feuchten Kiewer Archiv. Eines Tages taucht dort Bohdan mit einem Koffer voller alter Fotos und Briefe auf. Romana beginnt sich in den Kofferinhalt einzuarbeiten und die Bruchstücke zu einer Geschichte zusammenzusetzten – auch, indem sie Lücken mit Mutmaßungen und ihrer Fantasie füllt. Als einige Zeit später ein völlig entstellter Soldat ohne Erinnerung aus dem Donbass geborgen wird, glaubt Romana Bohdan in ihm zu erkennen. Sie gibt sich für seine Ehefrau aus, um ihm eine Identität zu geben, indem sie ihn mit den Geschichten aus dem Koffer füttert.
Der Auftakt einer Roman-Trilogie, welche circa 100 Jahre ukrainische Geschichte umfasst. Immer mit der Frage: Was bedeutet die uns prägende Geschichte für unsere Identität und wie zuverlässig sind dabei unsere Erinnerungen?
Saskia Jürgens
Sofia Andruchowytsch
„Die Geschichte von Romana“
304 Seiten
Residenz Verlag
25,- Euro
„Ein Verwirrspiel mit der Wahrheit“
Zunächst scheint es, als hätte der viel ältere Jež Rita beim Geburtstagsessen einer ihm verhassten Freundin seiner Frau kennengelernt. Als Rita erwachsener ist und Jež geschieden, sucht Rita seine Nähe, was in Verabredungen, Verunsicherung und ziemlich viel Ärger mündet. Doch irgendwann wird deutlich: Es ist Rita, die da über Jež schreibt; und all das vielleicht ein Gebilde ihrer Fantasie? Doch wer ist Jež? Ist Rita Patientin einer psychiatrischen Anstalt? Arbeitet sie in einem Ministerium? Warum bekommt sie diese Schreibaufträge? Ist es am Ende Rita, die alle in ihrem Umfeld manipuliert?
Ein faszinierender, ausgeklügelter Roman, der das fragile Gerüst der Wahrheit ins Wanken bringt, voller Ironie, interessanter Gedanken und einer bildhaften Sprache.
Saskia Jürgens
Ana Marwan
„Verpuppt“
220 Seiten
Otto Müller Verlag
24,- Euro
„Alleinstehend. Mit Hamster“
… so beschreibt sich die in einer japanischen Großstadt lebende Protagonisten. Mit 25 Jahren hat sie sich in ihrer K1-Wohnung eingerichtet: allein; zurückgezogen; lässt es sich nicht vermeiden, ein Gespräch mit den Nachbarn vor der Tür; nur unvermeidbarer telefonischer Kontakt zu ihren Eltern und ein Geister-Hamster. Als sie ihren Job als Aushilfskellnerin mangels Empathie für die Gäste verliert, sucht sie sich einen Job bei einem Reinigungsunternehmen. Gemeinsam mit ihrem schrulligen Chef und ihren drei männlichen Kollegen erledigen sie respektvoll die Aufgabe „etwas für einen Toten zu tun, was man sonst nur für einen Lebenden tut.“ – das Reinigen und Auflösen deren Wohnung. Durch die Begegnung mit dem Tod, lernt Suzu zu leben. Ist auch das Thema nicht neu, ist es humorvoll, liebenswürdig und nicht oberflächlich geschrieben.
Christine Naderer
Milena Michiko Flašar
„Oben Erde, unten Himmel“
Wagenbach Verlag
304 Seiten
26,- Euro
Neapel sehen – und sterben
Baron Carlo Coriolano di Santafusca aus urneapolitanischem Adel hat seinen gesamten Besitz am Spieltisch und bei Wetten durchgebracht. Sollte es ihm nicht gelingen, einen Schuldschein über 15000 Lire binnen einer Woche einzulösen, droht ihm das Gericht und ein langer Gefängnisaufenthalt. Doch so etwas kommt für einen Mann seines Standes nicht in Frage; eher muss er sich eine Kugel durch den Kopf jagen. Woher also soll er das nötige Geld so schnell herbekommen? Da betritt Don Cirillo, ein Priester, die Bühne. Dieser schwimmt dank eines Gewinns in der Lotterie und verschiedenen Wuchergeschäften im Geld. Doch er nannte ein einziges Mal, um sich dem Würgegriff seiner Feinde zu entziehen, mehrere Zahlen für die neapolitanische Lotterie, die dann zu seinem Unglück tatsächlich gewannen. Seither bestürmen ihn alle möglichen Leute, er solle ihnen die Zahlen für die Lotterie nennen, wo er doch nur eines will: In Ruhe sein Leben genießen. Wer einmal in Neapel gewesen ist, der weiß: Es gibt in der Welt Lotto, aber in dieser Stadt ist das ganze Leben von der Lotterie und der Suche nach den richtigen Zahlen bestimmt. Don Cirillo ist bereit, dem Baron sofort 30000 Lire für sein Landgut zu zahlen, angeblich, um sich dort in Ruhe zurückziehen zu können. Doch in Wahrheit ist seine habgierige Seele voll anderer Pläne. Was in der Folge geschieht, sei hier nicht verraten, nur so viel: Es kommt bald zu einem Mord. 1888 erschien dieser frühe Krimi in zwei großen italienischen Zeitungen als Fortsetzungsgeschichte. Einem Hut kommt eine tragende Rolle zu, entsprechend sah bei der Erstveröffentlichung der „Werbefeldzug“ für den Roman aus: Es wurden lauter große Plakate angeschlagen, auf denen nur – ein Hut – zu sehen war! Die Geschichte wurde völlig zurecht sofort zu einem Bestseller. Nun wurde dieser Krimi, der so atmosphärisch dicht im Neapel des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist, vom Aufbau-Verlag in einer wunderschönen Ausgabe mit einem ergänzenden, lesenswerten Nachwort der Übersetzerin herausgebracht. Was für eine grandiose Wiederentdeckung! Nehmen sie sich viel Zeit, bevor sie das Buch in die Hand nehmen. Einmal angefangen, wird es ihnen nicht gelingen, so schnell wieder aufzuhören!
Martin Schick
Emilio de Marchi
„Baron Santafusca und der Priester aus Neapel“
Die Andere Bibliothek
Aufbau-Verlage Berlin 2022
372 Seiten
44,- Euro
Utopien und ihre Folgen
Die 17-jährige Yada wächst auf einer schwimmenden Insel vor Deutschlands Küste auf. Dieses utopische Projekt soll die Bewohner*innen vor der untergehenden Zivilisation und dem Kollaps bewahren. Damit dieser vermeintliche Plan aufgeht, bedarf es strenge Regeln. Was einst ein strahlender Weg aus der Krise sein sollte, hat längst seinen Glanz verloren, der nun Verwitterung, Moos und Algen gewichen ist.
Zeitgleich gründet und verliert die Künstlerin und weissagende Helena auf dem Festland eine Sekte. Ihr Dasein, das ohnehin von der ein oder anderen Skurrilität geprägt ist, droht weiter aus dem Ruder zu laufen. Wir Lesende erhalten zwischen den Kapiteln Einblicke in Helenas Archiv: eine Sammlung aus wahnwitziger Anekdoten der Zeitgeschichte, begangen von größenwahnsinnigen Männern.
Ein wunderbarer, schräger Roman, der witzig ist und zugleich zum Nachdenken über Utopien und ihre Folgen anregt.
Saskia Jürgens
Theresia Enzensberger
„Auf See“
262 Seiten
Hanser Verlag
24,- Euro
Schriftstellerinnen über weibliche Lust
Mit „frauen.begehren“ trägt Susanne Nadolny Auszüge erotischer Situationen aus Romanen, sowie Kurzgeschichten und Gedichte, die dieses Thema streifen, zusammen. Die Autorinnen, sie sind alle weiblich, stammen aus unterschiedlichen Generationen und Epochen – einige Namen kennt man, andere hat man schon irgendwo gehört, unbekannte gilt es zu entdecken. Sie beschreiben das sexuelle Begehren aus weiblicher Sicht, dabei sind die Texte so unterschiedlich, wie verschiedene Menschen nun mal empfinden und wahrnehmen. Ein spannender Streifzug, der an manchen Stellen sehr überrascht und dazu aufruft, diese Autorinnen literarisch näher kennenzulernen.
Saskia Jürgens
Hrsg. Susanne Nadolny
„frauen.begehren“
208 Seiten
S. Matrix Verlag
22,- Euro
Radioshow von einem unbekannten Ort
Josip Rotsky hat als Musiker mit seinem Klavierspiel an den Orten des Protests die Revolution unterstützt. Nach seiner Emigration in die Schweiz wird er kurz vor dem Sturz des Regimes gezwungen vor seinem Diktator zu spielen. Rotsky bewirft ihn mit einem Ei und trifft diesen tödlich, was das Absitzen einer Gefängnisstrafe mit sich führt. Hinter Gittern macht Rotsky eine Bekanntschaft, die seine Lebenssituation grundlegend verändern wird.
Ein unbekannter Autor, beauftragt vom Internationalen Interaktiven Biografischen Komitee, geht auf Spurensuche in Rotskys Leben. Zwischen den erhellenden Entdeckungen hören wir Radio Nacht mit Geschichten, Anekdoten, Poesie und Musik. Ein ukrainischer Genre mix, der sich stellenweise liest wie im Rausch.
Saskia Jürgens
Juri Andruchowytsch
„Radio Nacht“
468 Seiten
Suhrkamp Verlag
26,- Euro
Gerettet?!?
Hier ist das Nachfolgebuch von „Das Ende von Eddy“. Eddy, der im Norden Frankreichs in armen und ländlichen Verhältnissen, bildungsfern und rau aufwächst und dazu noch permanent auf Grund seiner Homosexualität gedemütigt wird, tritt die Flucht an in ein neues Leben, eine neue Identität, eine selbst gewählte Authentizität. Dabei begibt er sich auf eine Expedition durch sämtliche sozialen Schichten, stets bemüht, nicht als Tourist aufzufallen. Vom Schulwechsel, über die Universität hin zu DER Universität Paris, bis in die Ess- und Schlafzimmer Superreicher. Sich selbst retten durch seinen Aufstieg und damit an denen Rache nehmen, die ihn verletzt haben, ist sein erklärtes Ziel. Dabei analysiert er nicht nur seine Herkunft und Vergangenheit, also sein eigenes Leben; sondern geht schonungslos ins Gericht mit der kapitalistischen Gesellschaft, die bedacht darauf ist, dass jeder seinen Platz kennt und dort auch bleibt. „Erst wenn man weiß, dass andere Menschen Kaviar essen, erlebt man das Leben einer Putzfrau als Gewalt der Bourgeoise“. Ein kluges, anregendes Buch, das einen sicher nicht kalt lassen wird!
Saskia Jürgens
Édouard Louis
„Anleitung ein anderer zu werden“
272 Seiten
Aufbau Verlag
24,- Euro
Körper, Sex und andere Widrigkeiten…
…lautet der Untertitel dieses Büchleins voller Kurzgeschichten über das Entdecken der eigenen Körperlichkeit im weiten Sinne. So findet sich hier eine Sammlung von Texten über Sexualität, körperliche Grenzen und Tod, was dazu führt, dass Gedanken über Mobbing, Schönheitsideale und Organspende ihren Platz darin finden. Die Protagonistin scheint in allen Geschichten die gleiche zu sein – sie beginnt ihre Erzählungen im Alter von neun Jahren und beendet sie im Erwachsenenalter. Die Sprache ist oft sehr direkt und heftig, manchmal poetisch. Viele der Geschichten lassen die Lesenden auflachen, denn die beschriebenen Widrigkeiten erinnern sehr an die Entwicklungsschritte, Verwirrungen und Fettnäpfchen eines jeden. Andere Texte wiederum erreichen eine nachdrückliche Tiefe oder erfordern aufgrund der krassen Situation ein erschüttertes Durchatmen. Gemein haben alle Geschichten – das merkt man schnell und damit wir nicht zu viel verraten - dass das eigentliche Ziel immer knapp verfehlt wird.
Saskia Jürgens
Kali Drische
„Neulich im Schrank“
190 Seiten
Konkursbuch Verlag
9,90 Euro
Russische Bohèm-WG in Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts
Eine Schicksalsgemeinschaft, Wahlverwandtschaft aus jungen russischen Emigrant*innen, die sich in Paris zusammenfinden, durch rauschende Partys und Orgien taumeln, den Sinn ihres Seins ergründen und sich der Kunstwerdung ihres Lebens mit allen Sinnen hingeben. Im Zentrum steht der geheimnisvolle, mystische Apoll Besobrasow, den der Protagonist auf eigentümliche Weise trifft und sich an dessen Fersen heftet. Die Schauplätze variieren und machen das Geschehen besonders abwechslungsreich. Eben noch auf der orgiastischen Festivität und plötzlich in einem Schweizer Kloster, eine leerstehende Villa, ein Schloss am Gardasee. Doch hier geht es nicht nur um die Handlung allein: Träumerische Wahrnehmungen und detaillierte Beschreibungen – zum Beispiel von Regen in all seinen besonderen Nuancen – auf eine Art, die an James Joyce erinnert, spielen eine große Rolle und machen das Buch zu einem fantastischen Leseerlebnis.
Saskia Jürgens
Boris Poplawski
„Apoll Besobrasow“
300 Seiten
Guggolz Verlag
24,- Euro
Ein Roman wie ein Gemälde von Otto Dix…
… so ehrlich, entlarvend, bitter, sarkastisch, zynisch und an einigen Stellen einfach urkomisch. Der preußische Förstersohn, Erbe einer Mitgliedschaft in der schlagenden Studentenverbindung Arminia wird während seines Studiums beim Duell mit einem Herrn von Thurn und Taxis ehrenhaft entstellt und vom Hungerleider und Kommilitonen Wilhelm Wander mystifiziert. Vom Studium über die Schützengräben und Lazarett landet Odemar schließlich im Berlin der Novemberrevolution und einem Deutschand außer Rand und Band: verstümmelte Kriegsheimkehrer, politische Auf- und Umbrüche, Psychoanalyse, Scharlatane, Freizügigkeit, Tanzsalons, Sekten und der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Ein Streifzug durch die deutsche Geschichte kurz vor und nach dem ersten Weltkrieg, eine Parodie auf Militarismus, Nationalismus, Leichtgläubigkeit und den Versuch betäubt die Augen vor dem Weltgeschehen zu verschließen.
Saskia Jürgens
Yvan Goll
„Sodom und Berlin“
182 Seiten
Manesse Verlag
20,- Euro
Der kleine Nick und seine Erfinder
Irgendwo hat ihn jeder schon einmal gesehen oder von ihm gelesen – „Der kleine Nick“, kongenial erdacht von René Goscinny und Jean-Jacques Sempé. Goscinny war unter anderem für die Texte bei „Asterix und Obelix“ und „Lucky Luke“ verantwortlich. Da er eng mit dem grandiosen Zeichner Sempé befreundet war, entstand der Wunsch nach einem gemeinsamen Projekt. Obwohl die ersten Geschichten im Jahr 1959 entstanden, machen sie bis heute eine Riesenfreude. 2022 ist nun ein Buch erschienen, das zum einen vom kleinen Nick erzählt, aber gleichzeitig auch von der Geschichte der außergewöhnlichen Freundschaft von Sempé und Goscinny. Beide hatten es im Leben nicht immer leicht, und doch haben sie wundervoll dabei zusammengearbeitet, den kleinen Nick und seine urkomische, eigene kindliche Sicht auf die Welt zum Leben zu erwecken. Geschrieben hat das neue, herrliche Buch Anne Goscinny, die die Sprache und den Witz ihres Vaters wunderbar trifft. Der kleine Nick erwacht zu neuem Leben, und der Zeichner Fabrice Ascione setzt dazu Bilder, die sich am Stil von Sempé anlehnen, aber eben doch auch eine eigene Note haben. Das Vorwort würdigt noch einmal den Übersetzer aller vorherigen Geschichten, Hans Georg Lenzen, der so treffend schrieb, dass „Satzbau und Zeichensetzung dem kleinen Nick angepasst sind, nicht dem „Kleinen Duden““.
Kaufen Sie das Buch, und Sie werden einen Riesenspaß haben. Alles klar? Prima!
Martin Schick
Anne Goscinny
„Der kleine Nick und das große Glück“
124 Seiten
Diogenes Verlag AG Zürich 2022
18,- Euro
Von München über New York ins Nildelta
Berührend und intensiv erzählt die Protagonistin die Geschichte ihrer ägyptisch-deutschen Familie. Am Sterbebett ihres Bruders taucht sie in die Vergangenheit ihrer Vorfahren ein und erzählt bis in die Gegenwart hinein und über drei Kontinente hinweg. Dreh- und Angelpunkt sind die Fragen nach der Identität, der Heimat und dem Gefühl, sich wie ein Chamäleon zwischen zwei Welten zu bewegen.
Petra Wansing
Annabel Wahba
„Chamäleon“
288 Seiten
Eichborn Verlag
23,- Euro
Eine Kindheit in einem erschütterten Land
Trisha, die in Frankreich lebt, kehrt nach vielen Jahr zur Beerdigung ihres Vaters in ihre Heimatstadt Kalkutta zurück. Nach der Zeremonie wandelt sie allein durch ihr Elternhaus und stößt dort auf Erinnerungsstücke, die ihre Kindheit Revue passieren lassen. Die Lesenden erhalten dabei jedoch nicht nur einen Eindruck von Trishas herausfordernder Familiengeschichte, sondern tauchen in Indiens politische Vergangenheit ein, mit welcher der verstorbene Vater eng verknüpft war. Indien zu dieser Zeit regiert von der rechtsgerichteten Indira Gandhi, gewaltvolle Übergriffe, linke Widerstandskämpfer und der Traum von Gerechtigkeit und Frieden. Ein Roman, der einen Einblick in Indiens naher Geschichte bietet, die bis heute noch ihre Wirkung zeigt.
Saskia Jürgens
Shumona Sinha
„Kalkutta“
192 Seiten
Edition Nautilus
19,90 Euro
Ein sumerischer Mythos neu erzählt
Wir befinden uns in einer modernen Stadt, gebaut auf Ruinen und getragen von Pfeilern aus Stahl. Die Technik erinnert an Science-Fiction; diese Welt mutet fantastisch an. Hier bewegt man sich mit Fahrstühlen horizontal und vertikal fort; aber auch per Rikscha. Jeder hat exakt seinen Platz und seine Bestimmung an diesem Ort. Die Göttin Anna In wird vom Ruf ihrer Zwillingsschwester in die Unterwelt gelockt. Doch wer die Hölle betritt, wird sie nie wieder verlassen. Zurück bleibt ihre beste Freundin Nina Subur, die im Ernstfall Hilfe holen soll. Wird es ihr gelingen die Götter zu mobilisieren?
Saskia Jürgens
Olga Tokarczuk
„Anna In“
192 Seiten
Kampa Verlag
22,- Euro
Die Geduld der Frauen als Stütze des Patriarchats
Die Autorin Djaili Amadou Amal beschreibt in ihrem Roman das erzwungene Eheleben dreier Frauen in einer polygamen Verbindung. Drei Frauen aus Kamerun, die in reiche Familien hineingeboren und verheiratet werden; die von der Kindheit an zur Geduld und somit zum stillschweigenden Ertragen, ermahnt werden und nun in ihren Ehen Erniedrigung, Gewalt und Konkurrenzkampf erleben. Doch jede dieser Frauen beginnt auf ihre eigene Weise sich gegen dieses unterdrückende System zu wehren. Die Autorin gehört selbst den muslimischen Fulbe Kameruns an, erlebte Zwangsheirat und gründete als Frauenrechtsaktivistin die Vereinigung „Femmes du Sahel“. Sie weiß wovon sie erzählt. Das Buch zu lesen ist so schmerzhaft wie informativ; eine traurige Wahrheit im Leben der Frauen, die sich nur ändern kann, wenn darüber gesprochen wird. Djaili Amadou Amal gibt diesen Frauen eine Stimme, die unbedingt erhört werden muss.
Saskia Jürgens
Djaili Amadou Amal
„Die ungeduldigen Frauen“
176 Seiten
Orlanda Verlag
18,- Euro
Leben am Kottbusser Tor
Denjenigen, die schon einmal in Kreuzberg waren, wird die faszinierende und gleichzeitig Unbehagen einflößende Atmosphäre, die das Neue Kreuzberger Zentrum, kurz NKZ, ausströmt, in Erinnerung geblieben sein. Das monströse Gebäude aus den frühen 70ern beherbergt 367 Wohnungen und zahlreiche Kultur- und Geschäftsräume. Hier spielt Julia Rothenburgs Roman; die Protagonist*innen wohnen im NKZ und einer als Obdachloser davor, beziehungsweise unter dem schützenden Torbogen, der ein Loch in den Bau reißt. Die Leben von Mutlu, Stanca, Aylin, Ario, Marianne und ein paar weiteren sind auf Grund der gemeinsamen Adresse stark miteinander verwoben, ähnlich in ihrer Dramatik und doch so unterschiedlich wie sie nur sein können. Schon beinahe voyeuristisch fühlt es sich an, in die Monologe dieser Menschen einzudringen und sich aus einzelnen Gedankenfetzen Lebensschicksale zusammenzustückeln. Dennoch geht die Autorin sorgsam mit ihren Figuren um, die man beim Lesen allesamt ins Herz schließt. Ich habe Rothenburgs experimentellen, kollagenartigen Schreibstil, bei dem auch das Haus zu Wort kommt, sehr genossen und möchte die gewonnenen Einblicke in das soziale Gefüge „Plattenbau“ gerne teilen und weiterempfehlen.
Saskia Jürgens
Julia Rothenburg
„Mond über Beton“
320 Seiten
Frankfurter Verlagsanstalt
22,- Euro
Was macht das Netz mit Dir
Vor allem dann, wenn du dafür zuständig bist verstörende Bilder und Videos und Hassbeiträge herauszufiltern. Irgendwann weiß man nicht mehr, was richtig oder falsch ist und blickt in einen Spiegel der eigenen Abgründe. Klein, fein komponiert, gut 100 Seiten Roman, der die virtuelle Welt ohne Schminke zeigt. Weltweit gibt es Tausende, die bei der digitalen Müllabfuhr beschäftigt sind.
Kayleigh ist jung, leider ohne Geld und nimmt deshalb den Job in der Firma Hexa an. Im Akkord schaut und bewertet sie Clips: 500 am Tag, beim Gang auf die Toilette wird die Zeit gestoppt. Nichts darf in den Arbeitsraum mitgenommen werden, nichts herausgetragen, alles, was dort gesehen wird, bleibt auch dort. So ist es gedacht. Doch fast zwangsläufig führt der Weg zum Therapeuten…
Thomas Mahr
Hanna Bervoets
„Dieser Beitrag wurde entfernt“
112 Seiten
Hanser Berlin
20,- Euro
Eine grossartige Liebeserklärung
an die Musik und die Aufbruchstimmung der Sechziger in London. Energiegeladen und berauschend erzählt David Mitchell Aufstieg und Fall der Band Utopia Avenue. Täglich öffnen neue Clubs, gründen sich neue Bands - die Kreativität explodiert. Vier junge Musiker finden sich zusammen für zwei Alben die den Nerv der Zeit punktgenau treffen. Elf Holloway, von der Folkmusik kommend; Dean Moss am Bass; Griff Griffin am Schlagzeug; dazu der geniale Gitarrist Jasper de Zoet, ja, durchaus verwandt mit dem de Zoet aus den tausend Herbsten. Mitreißend und überwältigend, von einer Erzählfreude ohnegleichen. Nur kurz währt der Ruhm von Utopia Avenue, doch die Geschichte bleibt tief in unseren Herzen. Ein wahres Meisterwerk.
Klaus Schönfeld
David Mitchell
„Utopia Avenue“
752 Seiten
Rowohlt Verlag
26,- Euro
Die Freiheit eine Frau zu sein
Was haben die Franzosen doch für ein Talent, Gesellschaftskomödien zu verfilmen oder zu schreiben, die dann sehr wohl mit Ernsthaftigkeit ein Thema mitten aus dem Leben beleuchten. „Es ist ja nur ein Mädchen“, so die Meinung in den 60er Jahren und Grund genug, mit der Verwandtschaft die Champagnerkorken nicht knallen zu lassen. Camille Laurens hat einen Roman über drei Frauengenerationen geschrieben, bei dem es der Jüngsten gelingt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und die Mittlere verstehen lernt, dass das so gut ist.
Thomas Mahr
Camille Laurens
„Es ist ein Mädchen“
256 Seiten
DTV Verlag
22,- Euro
Dieses Buch tut einfach nur gut!
Nur raus aus der hektischen Großstadt, irgendwohin, am besten zum Großvater aufs Land. Mann weg, Job weg und die Verzweiflung groß, da bleibt als letzter Ausweg nur die brandenburgische Provinz – allerdings hat Alina hat ihren Großvater doch arg vernachlässigt und 18 Jahre nicht mehr gesehen. Er lebt als ehemaliger Forstbotaniker ganz im Einklang mit der Natur und nimmt seine Enkelin auf, ohne groß Fragen zu stellen. Alina wirft allen Ballast über Bord und findet nicht nur sich selbst wieder, sondern sogar den Mut neue Pläne zu schmieden. Ein Buch, wie eine Auszeit von all den Sorgen…
Thomas Mahr
Franziska Fischer
„In den Wäldern der Biber“
320 Seiten
DuMont Verlag
22,- Euro
Die einzige große Liebe, es gibt sie.
Eigentlich hat es Jane, die Erzählerin ganz gut getroffen. sie lebt mit ihrem liebevollen Freund Billy bei ihrer fürsorglichen Mutter, Jane ist grade 18 und schwanger, sie arbeitet bei einem Pizza Lieferdienst und fährt Pizzas aus, irgendwo in Los Angeles. Ab und zu trinkt sie ein, zwei Bier zu viel um sich zu betäuben, weiß wohl aber nicht so recht wovon, Es könnte eine langweilige amerikanische Ehe Geschichte werden, doch als Jane eines Tages eine Salamipizza mit Gürkchen ausliefert passiert es, ihre Welt ist plötzlich eine andere. Dieser neuen anscheinend unerfüllten Liebe ist sie komplett und wehrlos ausgeliefert. Jane erzählt ihre Geschichte so grossartig und schräg, dann voll Verzweiflung aber dann wieder weise. Einfach hinreissend.
Klaus Schönfeld
Jean Kyoung Frazier
„Pizza Girl“
236 Seiten
Kampa Verlag
22,- Euro
„Die Geschichte Lateinamerikas ist eine einzige Horrorgeschichte
deshalb müssen die Zeichen der Gewalt auch in der Literatur auftreten.“
sagt die Autorin über ihren Roman. Vor dem Hintergrund der argentinischen Geschichte wird eine vielschichtige und bedrohliche Vater Sohn Beziehung erzählt. Juan, der Vater ist Medium für einen grausamen Orden, für den er die Dunkelheit herauf beschwören muss. Er unternimmt alles um seinen Sohn Gaspar vor dem Zugriff des verbrecherischen Ordens zu schützen. Der Roman ist eindrücklich, unbequem, beängstigend, vereinnahmend. Oft lassen sich reale Ereignisse aus der argentinischen Geschichte mit Erfindungen der Autorin nicht trennen. Ein Horrorroman auf jeden Fall, aber auch viel mehr. Einheimische Heiligenkulte und indigene Mythologie schaffen eine dunkle Atmosphäre. Aber es liest sich auch wie ein groß angelegter viktorianischer Roman mit vielen faszinierenden Charakteren. Das Buch überschreitet einige Grenzen und so kommt man als Leser durchaus auch an Grenzen. Mit Sicherheit das beeindruckendste Buch der letzten Jahre.
Klaus Schönfeld
Mariana Enriquez
„Unser Teil der Nacht“
824 Seiten
Tropen Verlag
28,- Euro
Es ist schon wieder was passiert…
Wolf Haas, der herausragende österreichische Autor so wunderbarer Werke wie „Das Wetter vor 15 Jahren“, stellt uns den inzwischen neunten Band seiner „Brenner“-Reihe vor. In „Müll“ geht es zuerst einmal um eine wichtige Trennung: Was ist Müll und was ist Mist? Mist hat der Bauer früher noch brauchen können und aufs Feld gefahren; den Rest hat man einfach in den Bach geschmissen. Aber in Wien ist heute alles Mist, sprich: man kann es wiederverwenden. Was ist aber, wenn auf dem Mistplatz (bei uns hieße das Recycling-Hof) immer mehr Leichenteile auftauchen? Und der Brenner? Der arbeitet jetzt eben auf dem Mistplatz, weil er damals auf die Polizeikarriere geschissen hat. Müllarbeit bedeutet schließlich Zukunft gestalten. Die Polizei kommt zum Mistplatz; dabei auch sein Ex-Kollege Kopf, über den der Brenner nur denkt: „Jetzt haben wir uns so viele Jahre nicht gesehen und können uns ohne die geringste Anlaufzeit immer noch genauso schlecht unterhalten wie früher“. Der Fall scheint für die Kriminaler schnell gelöst, bis die Tochter des Opfers auf dem Mistplatz auftaucht und sagt, die Polizei liege falsch. Da juckt es den Brenner, und er beginnt als alter Kriminalist zu ermitteln.
Die „Brenner“-Krimis haben inzwischen Kultstatus erlangt; einige von ihnen wurden mit Josef Hader in der Hauptrolle auch hervorragend verfilmt. Wolf Haas hat dafür einen einzigartigen, lakonischen Sprachstil entwickelt. Beispiel gefällig? Der Brenner zieht den Kollegen Novak vom Mistplatz auf und denkt dabei „weil seit der letzten Novak-Freundin auch schon wieder ein paar Tierarten ausgestorben“. Viel „Wiener Schmäh“ steckt also noch dazu in „Müll“. Ein rundum empfehlenswertes, einzigartiges Buch, auch für Leute, die Krimis sonst nicht gerne lesen!
Martin Schick
Wolf Haas
„Müll“
287 Seiten
Hoffmann und Campe Verlag 2022
24,- Euro
Was für ein Sommer!
Stellen sie sich vor: Sie flanieren im Frühjahr durch die wunderbare ewige Stadt Rom. Dort begegnen sie dem ersten Protagonisten unserer Geschichte, einem jungen Mann, gutaussehend, an einem Tag, an dem für ihn alles schiefläuft, was nur schiefgehen kann. Und so macht er sich in Rom im strömenden Regen auf, zu Fuß durch die ganze Stadt. So beginnt dieses herrliche Buch, das auch Drehbuch zu einem wunderbaren Film sein könnte. Unser Held nimmt sich für alle möglichen unnützen Dinge viel Zeit, vergisst darüber aber sogar den eigenen 30. Geburtstag. Doch dann kommt es zu einer schicksalhaften Begegnung: Er trifft auf Arianne, eine Frau, die die Nacht kennt, wie ihre Westentasche und die mit unglaublicher Sorglosigkeit von einem Tag in den Nächsten lebt. Sie ist von zu Hause abgehauen und hat nur ein Buch von Proust, ein paar Streichhölzer, eine Flasche Parfüm sowie ein Kartenspiel mitgenommen.
„Der letzte Sommer in der Stadt“ ist in Italien schon 1973 erschienen, als der Autor, Gianfranco Calligarich, gerade einmal 26 Jahre alt war. Nun liegt der großartige Roman dank des Zsolnay-Verlags erstmals auf Deutsch vor. Liebhaber Roms können mit den beiden Hauptfiguren in Gedanken durch Rom flanieren und das pralle Leben genießen. Ein Buch, so leicht und sorglos und gleichzeitig so ernst und schwermütig wie „Frühstück bei Tiffany“ von Truman Capote. Rom für einen Sommer; kommen sie mit!
Martin Schick
Gianfranco Calligarich
„Der letzte Sommer in der Stadt“
205 Seiten
Zsolnay-Verlag Wien 2022
22,- Euro
Giallo Nero
„Und es kommt ein neuer Winter“, so lautet der Titel des neuesten Krimis von Massimo Carlotto. Die Polizei nimmt in dieser Geschichte aber nur eine Nebenrolle ein; die Fäden werden von nahezu allen beteiligten Personen gezogen. Schon der sehr ungewöhnliche Beginn der Geschichte ergibt sich daraus, dass wir als Leser gleich im ersten Kapitel von einer Tat, den Tätern und ihrem Motiv erfahren. Das Drama ereignet sich in einem norditalienischen Tal; es gibt daraus nur einen Ausgang, und wer dort leben will, sollte auf seinen Ruf achten. Bruno hat in dieses Tal eingeheiratet in eine alteingesessene, mächtige Familiendynastie, die Pesentis. Er bleibt für alle anderen im Tal der Außenseiter, oder wie Schwaben es ausdrücken würden, ein „Neigschmeckter“. Doch dann passiert, wie schon erwähnt, die erste Tat und löst eine ganze Kette weiterer Vorgänge aus. Es ist wie im Winter im Hochgebirge: Manchmal reicht ein geworfener Schneeball aus, um nach und nach eine große Lawine ins Rollen zu bringen. Denn im Tal gilt: Alles im Tal wird selbst geregelt, und im „Dorf“ hilft man sich untereinander.
Carlotto hat einen sehr guten Krimi ganz anderer Art geschrieben, der rabenschwarz das Tal und seine Bewohner betrachtet. Alles soll selbst geregelt werden und führt doch von einer zur nächsten Tragödie. Stellen sie sich ein paar Marrons glacés und ein schönes Glas Rotwein bereit und lassen sie die „Lawine“ niedergehen!
Martin Schick
Massimo Carlotto
„Und es kommt ein neuer Winter“
220 Seiten
Folio-Verlag 2022
22,- Euro
Ein Vermächtnis des Altmeisters
Andrea Camilleri (1925 – 2019) war bis zu seinem Tod eine der prägenden Gestalten der zeitgenössischen italienischen Literatur. Neben wunderbaren Erzählungen wie etwa „Der unschickliche Antrag“ über die Folgen, die ein Antrag auf einen Telefonanschluss im 19. Jahrhundert mit sich bringen konnte, ist er vor allem für seine Kriminalgeschichten um den Commissario Montalbano berühmt geworden. 2016 veröffentlichte er in Italien den nun auf Deutsch vorliegenden Band „Das Ende des Fadens“. Camilleri diktierte diese Geschichte bereits, da er erblindet war. Und doch erzählt er großartig und mit wachem Geist dieses Buch, in der sich Montalbano darin üben muss, dass ihm nicht der Geduldsfaden reißt. Eine sehr attraktive Schneiderin wird ermordet aufgefunden, und sogleich schießen die üblichen Verdächtigungen ins Kraut; war es ein Mord aus Eifersucht oder aus unerwiderter Liebe, oder gar ein Racheakt für eine Entlassung? Für viele scheint der Fall schnell klar, nur nicht für Montalbano. Er macht sich an die mühseligen Ermittlungen mit dem bewährten Personal des Kommissariats; sein Vize Mimì Augello, berüchtigter, aber etwas in die Jahre gekommener Frauenheld; der spröde, aber absolut zuverlässige Fazio sowie als weitere Hauptfigur der ungeschickte und tollpatschige, aber zutiefst menschliche und mitfühlende Catarella. Viele Fährten bestehen, doch welche wird schlussendlich zum Ziel führen? Camilleri, selbst aus Porto Empedocle an der Südküste Sizilien stammend, schildert parallel das Drama der vielen Flüchtlinge, die in den Häfen Siziliens an Land gebracht werden. Da ist einerseits der große Wunsch, diesen Menschen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um aus einer aussichtslosen Lage herauszukommen, zu helfen. Auf der anderen Seite führt die schiere Anzahl der täglich ankommenden Flüchtenden aber auch zu einer völligen Überforderung der Menschen und Behörden vor Ort. Andrea Camilleri gelingt es, uns tiefe Einblicke in dieses Dilemma zu geben. Und natürlich kommen auch das sizilianische Leben und die kulinarischen Köstlichkeiten in diesem wunderbaren Krimi nicht zu kurz. Lassen sie sich das Wasser im Mund zusammenlaufen!
Martin Schick
Andrea Camilleri
„Das Ende des Fadens“
Kriminalroman
304 Seiten
Bastei-Lübbe Verlag
22,- Euro
Leben in einer archaischen Welt
Damir Karakaš ist ein kroatischer Autor und Musiker. Nun ist sein eindrückliches Werk „Erinnerungen an den Wald“ auf Deutsch erschienen. Es handelt sich dabei um eine Sammlung kurzer Geschichten, die wie Momentaufnahmen aus einer Kindheit und Jugend in einem Haus vor dem Wald geschrieben sind. Der Alltag in der Familie und mit den Freunden ist hart, das Leben in einfachsten Verhältnissen eine Herausforderung für den Bauernjungen, der eine schwere Erkrankung des Herzens in sich trägt.
Er leidet darunter wegen der von seinen Eltern geheim gehaltenen Krankheit nicht ernst genommen zu werden. Deshalb spürt er immer wieder die große Enttäuschung des Vaters, der noch dazu gewalttägig gegenüber seinem Sohn werden kann.
Der Junge lebt in einer Welt, wie sie bei uns schon lange nicht mehr existiert. Beim Viehhüten muss man beständig aufpassen, dass der gefährliche Bär nicht kommt; und als der junge Mann aus dem nächsten, größeren Ort kommt, weil er mit Freunden im Kino war, hört er im Wald rechts und links die Wölfe heulen. Das alte Haus, in dem er mit seiner Familie lebt, ist so baufällig, dass es, als es durch ein neues Gebäude ersetzt werden soll, von zwei Ochsen mit einem Seil umgerissen werden kann. Doch es gibt für den Jungen auch Fluchten und Traumwelten, und wenn es keine Möglichkeit zum Schwimmen gibt, gräbt man einfach am Waldrand ein großes Loch, um zumindest ein Wasserbassin zu haben.
Alle Geschichten sind in einer klaren, direkten Sprache erzählt und lassen uns teilhaben am Leben und Erleben des Bauernjungen. Diese Erinnerungen an eine harte und karge, gleichzeitig aber auch ganz besondere Kindheit und Jugend in einer Welt wie man sie bei uns nur noch aus Büchern wie „Herbstmilch“ kennt, sind hervorragend in diesem wunderbaren Buch zusammengetragen.
Martin Schick
Damir Karakaš
„Erinnerungen an den Wald“
152 Seiten
Folio Verlag
20,- Euro
Was für eine Menagerie!
Der herausragende sizilianische Autor Andrea Camilleri hat im hohem Alter dieses kleine Buch mit lauter Tiergeschichten verfasst. Er ist in Deutschland vor allem wegen seiner Krimis mit Commissario Montalbano bekannt, hat aber daneben auch herrliche Romane und Erzählungen veröffentlicht.
Alle Tiere, die Camilleri beschreibt, sind ihm und seiner Familie zugelaufen; nie wurde ein Tier in einer Tierhandlung gekauft. Und doch finden sich über die Jahre hinweg Hunde, Katzen, Vögel, Igel, Schlangen und weitere Tiere im Hause des Autors ein. Er sagt, dass „nicht wir uns ein Tier als Gefährten aussuchen, sondern das Tier uns auswählt“. Besonders großen Zuwachs erhält die Menagerie, als die Familie beschließt, etwas gegen die vermeintlich vorhandenen Vipern unternehmen zu müssen.
Erleben sie Truthähne auf der Flucht, eine Schlange mit Anstellung, Schweine im Vollrausch oder den Baron, eine Katze von wahrhaft aristokratischem Wesen. Sie werden sich meisterliche Beobachtungen der Tierwelt erlesen können, die in Camilleris lebhaftem und bilderreichen Schreibstil niedergeschrieben wurden. Warum hat der sizilianische Schriftsteller das entzückende Buch geschrieben? Er wollte zeigen, dass die Tiere zu seiner Zeit noch nicht künstlich waren und, dass sie wahrhaft eine Persönlichkeit haben können.
Martin Schick
Andrea Camilleri
„Rendezvous mit Tieren“
176 Seiten
Kindler Verlag
22,- Euro
Das Geheimnis dieses Buches ist, dass man darin alles findet was uns im Leben begegnet.
Und noch einiges mehr. Das Oakland in Brooklyn ist eine Bar, in der sich die Aussenseiter und Gestrandeten treffen. Im Mittelpunkt steht Gal Ackerman, der an einem grossen Roman schreibt, dem Roman seines Lebens. Doch gleich zu Beginn des Romans erleben wir schon die Beerdigung von Gal. Sein Freund Ness übernimmt die Aufgabe das bisher Geschriebene zu ordnen und den Roman fertig zu schreiben. Die Wurzeln der Geschichte finden sich im Spanischen Bürgerkrieg, wo jemand schwere Schuld auf sich lädt. Doch das Hauptmotiv des Buches ist die grosse Liebe von Gal, Nadja, die ihn vor Jahren verlassen hat. Das Buch setzt sich zusammen aus Fragmenten und wechselt oft die Zeiten und Erzählperspektiven. Also ein Buch mit Ecken und Kanten, aber unwiderstehlich.
Klaus Schönfeld
Eduardo Lago
„Brooklyn soll mein Name sein“
500 Seiten
Kröner Verlag
25,- Euro
Mein Junge war ein Universum im Miniaturformat
Das sagt Theo über seinen Sohn Robin, hochbegabt, mit Zügen von Autismus und unermesslicher Liebe zur Natur. Nach dem frühen Unfalltod der Mutter überschüttet der Vater seinen Sohn mit all seiner Liebe. Robin hat Probleme mit der Schule, wird gemobbt und soll nach dem Willen Außenstehender Medikamente nehmen. Theo ist Astrobiologe und erzählt seinem Sohn von Lebensmöglichkeiten auf fremden Planeten. Durch eine Art neuronales Feedback wird versucht Robins Verhalten etwas normgerechter zu gestalten ohne Medikamente zu nehmen. Das innige Verhältnis zwischen Vater und Sohn wird auf eine harte Probe gestellt. Die Beschreibungen von Vögeln, Natur und fremden Planeten sind außergewöhnlich faszinierend und zeigen wie schrecklich die Menschheit mit ihrer Umwelt umgeht. Phantastisches Buch, die Geschichte entwickelt einen unglaublichen Sog. Mit Sicherheit das erstaunlichste Buch des Jahres.
Klaus Schönfeld
Richard Powers
„Erstaunen“
320 Seiten
S. Fischer
24,- Euro
Zwischen Genie und Wahn
Ein erfolgreicher Schauspieler hat seine Frau betrogen, nun beginnt der Rosenkrieg und der Kampf um die Kinder. Er streift durch die Stadt zwischen Wut, Selbstzweifel und dem Willen ein guter Vater zu sein. Muß man das lesen? Unbedingt. So persönlich und mitreißend erzählt, absolut fesselnd. Dazu kommt diese Liebeserklärung ans Theater, Beschrieben werden parallel die Proben zu einem Shakespeare-Stück. So aufregend, intensiv und nah war man noch nie bei der Entstehung von Kunst dabei.
Klaus Schönfeld
Ethan Hawke
„Hell strahlt die Dunkelheit“
336 Seiten
Kiepenheuer & Witsch
23,- Euro
Taiwans Identität
Hauptperson in diesem Generationen übergreifenden Roman ist Umeko. Als Schulmädchen erlebt sie das Ende der 50-jährigen japanischen Besatzungszeit in einem kleinen Ort in Taiwan, nach den Japanern kommen dann die Chinesen. 70 Jahre später steht ein Familienfest an, die Nachkommen sind aus den USA angereist. Nach und nach enthüllen sich die Geheimnisse von Umekos Familie und warum ihr Bruder jahrelang in Lagerhaft war. Eine dramatische Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Geschichte Taiwans.
Klaus Schönfeld
Stephan Thome
„Pflaumenregen“
526 Seiten
Suhrkamp
25,- Euro
Realität, Traum oder etwas ganz anderes.
Die Urfassung dieses frühen Romans ist ein wilder, grotesker und surrealer Ritt. Goljadkin, ein kleiner glückloser Beamter bekommt es plötzlich mit einem Doppelgänger zu tun, der nicht nur so aussieht wie er sondern auch genau so heißt. Zu allem Überfluss arbeitet dieser 2. Goljadkin noch in derselben Dienststelle - und niemand findet das merkwürdig. Dem ersten Goljadkin entgleitet sein Leben immer mehr, doch passiert das alles wirklich? Bizarre Szenen wechseln mit unglaublich witzigen, hier also die Urfassung zum ersten mal in deutsch, einfach grandios.
Klaus Schönfeld
Fjodor Dostojewski
„Der Doppelgänger“
336 Seiten
Galiani Verlag
24,- Euro
Literatur ist Freiheit
Tanja wächst in den 1990er Jahren in Kalkutta auf. Ungeliebt von ihrer Mutter entdeckt sie im Buchladen ihres Vaters die Welt der Literatur. Besonders russische Klassiker haben es ihr angetan. Fasziniert ist sie von einem russischen Verleger der in den 1920ern surrealistische Bücher veröffentlichte. Sie nimmt Kontakt auf mit der mittlerweile 80jährigen Tochter des Verlegers, die in St Petersburg lebt. Diese zwei auf den ersten Blick verschiedene Welten haben doch viele Gemeinsamkeiten. Schnörkellos doch voller Poesie, ein ganz wundervoller Roman über die Kraft der Literatur, dem man nur einen Vorwurf machen kann: viel zu kurz, da steckt eigentlich ein 600 SeitenRoman drin.
Klaus Schönfeld
Shumona Sinha
„Das russische Testament“
184 Seiten
Edition Nautilus
20,- Euro
Drei Zeiten, drei junge Menschen, unendlich viele Möglichkeiten.
Konstantinopel 1453, in der belagerten Stadt kämpft Anna ums Überleben, sie stiehlt Bücher aus einer verlassenen Klosterbibliothek um sie zu verkaufen. Doch eins der Bücher wird sie behalten. Idaho heute, Seymour will Gerechtigkeit und verübt ein Attentat in einer Bibliothek. In einer fernen Zukunft ist ein Generationenschiff unterwegs zu einer neuen Welt. Konstance an Bord dieses Raumschiffs steht plötzlich vor einem unlösbaren Problem. Im Raumschiff gibt es eine Bibliothek, dort gibt es einen Atlas den man betreten und in dem man herumgehen kann, allein diese Beschreibung ist so grandios und verblüffend. Im Mittelpunkt der drei Geschichten stehen Jugendliche in bedrohlichen Situationen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Die drei Geschichten sind auf magische Weise verbunden, das Buch ist eine ganz grosse Hymne auf Phantasie und Bücher. Verzweiflung ist die einzige Sünde, die nicht vergeben wird, jedoch nichts ist in Stein gemeißelt. Ein einziger grossartiger Leserausch, unvergesslich.
Klaus Schönfeld
Anthony Doerr
„Wolkenkuckucksland“
532 Seiten
C. H. Beck
25,- Euro
Bologna am Abgrund
Dieser Kriminalroman versetzt die Leser in den Dezember 1944 nach Bologna. Es herrscht Krieg und große Not, Anarchie macht sich unaufhaltsam breit. Ein Teil der Stadt befindet sich noch in der Hand der deutschen Besatzer und der italienischen Faschisten, doch es gibt schon Bereiche, die vom italienischen Widerstand kontrolliert werden. Bologna, „die Fette“, wie sie die Italiener noch heute nennen, erlebt gesetzlose Zustände, und einen großen Mangel an allem Lebensnotwendigen. Noch dazu ist es ein bitterkalter Winter - der schwärzeste Winter, den die Stadt je erlebt hat.
In diesem Minenfeld, geprägt von der ständigen Bedrohung verhaftet zu werden, ermittelt Commissario De Luca. Es geschahen nahezu zeitgleich drei Morde, noch dazu fast am selben Ort. Scheinbar logische Erklärungen sind schnell gefunden, doch diese stellen den Commissario nicht zufrieden. Einer der Morde an einem Deutschen hat zur Konsequenz, dass das Leben von 10 Geiseln auf dem Spiel steht. De Luca hat nur wenige Tag Aufschub, um den Fall zu lösen und so deren Leben zu retten.
Lucarellis Buch ist nicht nur ein spannender, vielschichtiger Krimi, es lässt den Leser auch in eine kurze Epoche der italienischen Geschichte eintauchen, die in Deutschland nahezu unbekannt ist. Der schwärzeste Winter, bevor der Frühling der Befreiung 1945 die Erlösung brachte. Ein ausgezeichnetes Buch sowohl für Krimiliebhaber als auch für historisch interessierte Leser.
Martin Schick
Carlo Lucarelli
„Der schwärzeste Winter“
Kriminalroman
320 Seiten
Folio Verlag
22,- Euro
Sonne, Caféterrassen, buntes Treiben und ein Schmelztiegel der Gesellschaft
Dies alles findet man 1936 in der kroatischen Hafenstadt Split. Hier trifft die Crew eines Nazipropaganda-Filmteams auf Fischer, fliehende Juden und Jüdinnen sind auf der Durchreise, Kommunist*innen und Freimaurer bangen und hoffen auf bessere Zeiten. Hier wird an Tischen auf Caféterrassen über Politik und Gesellschaft diskutiert. Hier wird geliebt und geträumt. Hier rätseln Kommissare, denn es geschieht ein Mord und plötzlich ist jeder verdächtig. Jeder hätte ein Motiv. Alida Bremer nimmt die Lesenden mit in ein sommerliches, lebendiges Split in dem sich bereits die Vorboten des bevorstehenden großen Krieges in allen Ecken ankündigen. Eine Stadt, die wirkt wie ein großes Dorf, jeder kennt jeden, alle sind auf irgendeine Weise miteinander verwoben und doch klaffen Abgründe zwischen den unterschiedlichen Gesinnungen. Der Autorin gelingt es auf wunderbare Weise und mit bunten Farben dieses gesellschaftliche Gemenge und das Flair einer Stadt am Meer in die Fantasie der Lesenden zu zeichnen.
Saskia Jürgens
Alida Bremer
„Träume und Kulissen“
368 Seiten
Jung und Jung
24,- Euro
Eine Landbrücke von Afrika nach Europa
Mit dem Blick von heute ist Atlantropa sicherlich undenkbar, ein Projekt, das das Mittelmeer zu Teilen trockenlegen sollte, um so Afrikas und Europas Landmassen zu verbinden. Absurd nicht nur wegen der Klimakrise, sondern auch wegen eines Gigantismus und einer Technikgläubigkeit, die für einige Katastrophen der Vergangenheit verantwortlich sind. Der in Berlin lebende Schriftsteller Matthias Lohre erinnert mit seinem neuen Roman „Der kühnste Plan seit Menschengedenken“ an den Architekten Herman Sörgel, der zwischen den beiden Weltkriegen Kollegen, Wissenschaftler und Politiker für seine Idee einnahm. Selbst die Nazis waren von Sörgels Projekt zunächst fasziniert. Nur sah dieser in seinem Plan ein Projekt für den Frieden und nicht für nationalistische Allmachtspiele.
Matthias Lohre hat aber kein Sachbuch geschrieben, sondern einen wunderbaren Roman, der uns hinter die Kulissen des Lebens des Protagonisten blicken lässt.
Sörgel war verheiratet mit einer ähnlich schillernden Frau, Irene von Villányi, die aus einer jüdisch ungarischen Familie stammte und als Übersetzerin tätig war. Beide gehörten zum Kreis der Münchner Bohème und hatten so natürlich nichts mit den Nazis am Hut. Selbst nach dem Krieg taucht die Idee von Atlantropa wieder auf, bevor sie endgültig im Kuriositätenkabinett der Geschichte verschwindet.
Thomas Mahr
Matthias Lohre
„Der kühnste Plan seit Menschengedenken“
480 Seiten
2021 - Wagenbach Verlag
26,- Euro
Das Leben geht immer weiter
Im Jahr 2011 wird Japan von einem schweren Erdbeben erschüttert und der nachfolgende Tsunami reißt tausende Menschen aus dem Leben. Er lässt aber auch ebenso viele mit ihrem Trauma und der Trauer zurück.
In ihrem Roman greift Laura Imai Messina ein solches Schicksal heraus. Sie erzählt die Geschichte der 30jährigen Radiomoderatorin Yui, die bei der Naturkatastrophe ihre Mutter und ihre kleine Tochter verloren hat.
In einer von ihr moderierten Radiosendung zum Thema „Trauer“ erfährt sie von einem Garten an der Küste Japans, in dem das Telefon des Windes steht, von dem aus, Trauernde mit ihren Liebsten sprechen können. Yui macht sich gleich am nächsten Tag auf den Weg, findet diesen Ort und fährt immer wieder dorthin. Sie trifft dort auf Menschen mit ihren eigenen Geschichten von Verlust, aber auch auf die Menschen, die diesen geschützten Raum geschaffen haben.
In diesem wunderbar ruhig und unaufdringlich erzählten Roman geht es nicht nur um Trauer und Verlust, es geht auch ums füreinander Dasein, ums Zuhören, aber auch ums Weiterleben, darum sich dem Leben wieder zu öffnen und zu vertrauen. Es gibt sehr viele positive Momente und es entwickelt sich auch eine zarte Liebesgeschichte.
Petra Wansing
Mithu M. Sanyal
„Die Telefonzelle am Ende der Welt“
352 Seiten
btb Verlag
20,- Euro
Ein unkonventioneller Diskurs über Identität
„Welch originelle Mischung“ und „Coconut“ sind Ausrufe, welche Nivedita zu hören bekommt, wenn sie erzählt, dass ihr Vater Inder und ihre Mutter Polin ist. Äußerungen, die sie auf ihrer Identitätssuche überhaupt nicht weiterbringen. Ihre Professorin für Postcolonial Studies, Saraswati ist da deutlich hilfreicher. Doch was für ein Skandal! Saraswati ist nicht, wie sie vorgibt, Inderin, sondern weiß! Zwischen Shitstorms auf Social Media, Schlagzeilen und Verurteilungen durch die Öffentlichkeit zieht Nivedita kurzerhand bei Saraswati ein und stellt ihr intime Fragen. Ein Romandebüt der Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal, welches das Thema Zugehörigkeit im Schleudergang kontrovers, schonungslos und witzig diskutiert.
Saskia Jürgens
Mithu M. Sanyal
„Identitti“
432 Seiten
Hanser Verlag
22,- Euro
Die Jugend – welch „euphankolische“ Zeit
Missouri, 1985: Im Leben und der Gefühlswelt des 15-jährigen Sam ist einiges los: Die Tumorerkrankung seiner Mutter, ein Nebenjob im Kino, das schwierige Verhältnis zu seinem Vater, eine neue Clique und die dazugehörigen Eskapaden und natürlich das Hochgefühl und Verzweifeln des ersten Verliebtseins. Mit einem sensiblen, verständnisvollen Blick nimmt Wells die Lesenden mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle - ein Labyrinth, durch das sich jeder schon selbst auf seine Weise hindurchkämpfen musste und daher weiß, wie es sich anfühlt. Ein unberechenbares Wechselbad, bei dem Euphorie und Melancholie zu „Euphankolie“ verschmelzen.
Saskia Jürgens
Benedict Wells
„Hard Land“
338 Seiten
Diogenes Verlag
24,- Euro
„Werden wir Technik mehr lieben als Menschen?“
Erinnern Sie sich an DAS Projekt der 1970er Jahre von gigantischem, utopischen Ausmaß: Vom Mittelmeer durch die Libysche Wüste soll mit Hilfe von Atomsprengsätzen ein Kanal gebaut werden, um die Qattara-Senke zu Fluten. Es blieb beim Plan, das Projekt wurde nie umgesetzt. Doch heute ist der verwegene Gedanke – wegen des Klimawandels – zurück in den Köpfen. In Nikolas Maak Science-Fiction ist die Planung der Smartcity am Qattara-See bereits in vollem Gange. Turek arbeitet für die dafür verantwortliche Firma. Seine Tätigkeit führt ihn um die ganze Welt. Technik und künstliche Intelligenz. Entdecken. Entwickeln. Testen. Verhandeln. Was für Turek mit Hingabe und Vertrauen beginnt, droht in Rebellion und Flucht aufzugehen.
Während der Lektüre lohnt es sich immer wieder zu googeln, denn was auf den ersten Blick wie entfernte Zukunftsmusik klingt, entpuppt sich als greifbar nah.
Saskia Jürgens
Niklas Maak
„Technophoria“
277 Seiten
Hanser Verlag
23,- Euro
Versinken in grotesk-dystopischen Welten
Camilla Grudovas Kurzgeschichten lassen uns eintauchen in skurrile, düstere Welten, die sich nahe an dem, was wir kennen, bewegen, und doch nach ihrer ganz eigenen Logik funktionieren. Auf der Reise zu den Abgründen des Menschseins wandeln die Leser*Innen durch verwahrloste, von Gegenständen und Verfall überladene Settings, die eine atemberaubende Stimmung schaffen. Wem der Installationskünstler Edward Kienholz ein Name ist, der wird sich beim Lesen an dessen Werke erinnert fühlen, denn nicht selten kommt es einem so vor, als tappe und taste man sich durch eine seiner Rauminstallationen. Meist lässt uns Grudova nicht völlig in dieser Finsternis zurück, sondern überrascht mit unerwarteten Wendungen, Befreiungsschlägen und einer Prise gewitztem Feminismus. Ein Buch, das von der Atmosphäre, über ungewöhnliche Ereignisse bis hin zur Pointe, kurzweilige Lesefreude bietet.
Saskia Jürgens
Camilla Grudova
„Das Alphabet der Puppen“
200 Seiten
Culturbooks Verlag
20,- Euro
Deine Achtbarkeit – von anderen kreiert
Ariane ist klug, offen, hübsch, sexy. Schon während ihrer Schulzeit liegen ihr die Männer zu Füßen. Dass ihre Tante sie unabhängig und frei erzieht und diese selbst ein bemerkenswert ausschweifendes Leben führt, macht den Skandal im Russland der 1920er Jahre perfekt. So ein Mädchen kann nur ein Flittchen sein! Urteile sind schnell gefällt – so macht es auch Konstantin, der auf einem Zwischenstopp in Moskau auf Ariane trifft und diese als willkommene Gespielin für seinen Aufenthalt wählt. Aus einem Zwischenstopp wird ein Bleiben, die Emotionen steigern sich und kochen hoch. Am Ende steht ein Denkzettel, der Konstantin gewaltig den Kopf waschen sollte.
Was habe ich mich geärgert über dieses Buch – und genau das macht es zu einer großartigen Lektüre.
Nach über 100 Jahren leider immer noch aktuell. Claude Anet veröffentlichte „Ariane – Liebe am Nachmittag“ bereits 1920. Nun wurde es vom Dörlemann Verlag neu aufgelegt.
Saskia Jürgens
Claude Anet
„Ariane – Liebe am Nachmittag“
269 Seiten
Dörlemann Verlag
23,- Euro
Zwischen Realität und eigenen Träumen
Zuhause ausziehen, einen Beruf erlernen, studieren gehen – das ist wohl für viele der erste große Schritt ins Erwachsenenleben. Jedoch nicht der letzte. Casey hat sich ihr Leben nach dem Studium sicherlich anders vorgestellt. Sie will Romanautorin werden und hat dafür Literatur und kreatives Schreiben studiert. Nun sitzt sie auf einem Berg von Schulden; jobbt in einem Restaurant mit miesem Chef und wohnt in einer modrigen Gartenhütte, die bald abgerissen werden soll. Ihre Mutter ist vor kurzem gestorben, ihr Freund hat sie verlassen. Tiefer und schwärzer kann das Loch nicht sein, in das Casey zu fallen droht. Doch das sind Dinge, die auf gewisse Weise zu fast jedem Leben dazu gehören und so gilt es auch für die starke und zugleich zerbrechliche Casey nach dem Fallen wieder aufzustehen. Ein einfühlsamer Entwicklungsroman für alle, die den ersten Schritt ins Erwachsenenleben hinter sich und die weiteren noch vor sich haben.
Saskia Jürgens
Lily King
„Writers & Lovers“
319 Seiten
C.H. Beck Verlag
24,- Euro
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute
Sie lieben Bücher und kennen sich aus in den Klassikern der Literatur? Außerdem können Sie herzlich über Adam Douglas‘ „Per Anhalter durch die Galaxis“ lachen? Dann ist dieser durchgeknallte, verrückte Ausflug durch die Welt der Literatur – von William Shakespeare über die Bibel bis zu Terry Pratchett – genau das Richtige. Memento Mori (der Tod höchst persönlich) hat das Sterben und die Leichen in den Büchern satt. Um dies zu ändern, trommelt er ein kleines Team zusammen, stürzt sich mit diesem in literarische Welten und mischt sich in (fest-)geschriebene Schicksale ein. Wenn das mal gut geht, denn auch in der fantastischen Welt der Bücher gibt es einen Butterfly-Effekt. Oder will einfach nur jemand Memento Mori ans Leder? Ein herrlich komischer Krimi mit vielen bekannten Gesichtern.
Saskia Jürgens
Beka Adamaschwili
„In diesem Buch stirbt jeder“
199 Seiten
Voland & Quist Verlag
25,- Euro
Was für eine außergewöhnliche Frau
Das Buch von Zora del Buono ist so lebensprall, so voll von Geschichten, dass das Attribut „Familienroman“ kaum ausreicht. Die slowenische Autorin hat den gleichen Namen wie ihre Großmutter, die jene Marschallin ist, die dem Buch den Titel gibt. Und den Titel trägt sie nicht umsonst. Die spannende, durchsetzungsstarke Frau, die Teil der italienischen Geschichte wurde, lebte nicht frei von Widersprüchen. Sie liebte den Luxus, große Feste und war doch Kommunistin, die bis zuletzt Tito in seinem Kampf mit Waffen unterstützte, da sie als Italienerin ihre jugoslawischen Wurzeln nicht leugnen konnte. Sie war Mutter von drei Kindern und doch fremdelte sie mit der Mutterschaft und im Widerstand gegen den Faschismus wurde sie sogar in einen Raubmord verwickelt. Was für ein Leben, das ein Panorama eröffnet, ein Bild der Adriaregion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Andreas Knittel
Zora del Buono
„Die Marschallin“
382 Seiten
Beck Verlag
24,- Euro
Franz Josef Strauß taugt nicht zu Doktor Sommer
Auch mein Geburtsjahr ist 1957, auch mein Elternhaus war katholisch und wenn auch nur sehr kurzzeitig, nahm ich das Amt eines Ministranten wahr. Damit hören die Gemeinsamkeiten mit der Kindheit und den Jugendjahren von Probsts Romanhelden Peter schon auf. Natürlich habe ich manchmal in meiner kindlichen Not auch die Mutter Gottes gebeten, mir aus der Patsche zu helfen.
Doch wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass sie mir auch wirklich erscheinen könnte. Noch viel weniger hätte ich ein Plakat von Franz Josef Strauß über meinem Bett ertragen können. Richtig komisch die Lachmuskeln strapazierend wird der Roman, wenn sich der Junge in seiner erwachenden Sexualität von dem CSU-Granden Rat in Sachen „Mädchen“ sucht. Aber der Sturm der neuen Zeit war in den Siebzigern so mächtig, dass die katholischen Moralapostel nur hilflos zusehen konnten, wie ihr Einfluss auf die Jugend schwand. Und Peter wird in einem Akt der Befreiung das Bild von Franz Josef Strauß von der Wand reißen!
Thomas Mahr
Peter Probst
„Wie ich den Sex erfand“
296 Seiten
Antje Kunstmann Verlag
22,- Euro
Gestrandet, um zu diskutieren
Der junge Carsten Niebuhr wird 1764 Mitglied eines Entdeckerteams, welches auf seiner Expedition in die Arabische Welt Beweisstücke für den Wahrheitsgehalt biblischer Erzählungen zusammentragen soll. Als einziger Überlebender strandet Niebuhr auf Elefantia, einer kleinen Insel vor Bombay, und trifft auf den alten persischen Astronom Musa, der dort ebenfalls festsitzt. Die Autorin Christine Wunnicke lässt dabei Welten aufeinanderprallen: Orient, Okzident, Indien; Islam, Christentum, Hinduismus; Alt und Jung. Die beiden tauschen sich aus, arrangieren sich miteinander, diskutieren, öffnen sich und führen interessante Streitgespräche. Eine kurzweilige Lektüre, die die Lesenden in eine andere Welt und vergangene Zeiten entführt und diese mit neuen Einsichten über das Objektive und Subjektive zurückbringt – Erkenntnisse, die auch heute nicht an Gewicht verloren haben.
Saskia Jürgens
Christine Wunnicke
„Die Dame mit der bemalten Hand“
168 Seiten
Berenberg Verlag
22,- Euro
Mein ganzes Leben ist ein Rezept…
Jacky Durands Buch „Die Rezepte meines Vaters“ liest sich wie ein französischer Film, sentimental, traurig, manchmal wütend, aber auch mit sehr schönen Momenten. Er erzählt die - nicht nur - kulinarische Vater-Sohn Beziehung zwischen Henri und seinem Sohn Julien. Henri, der mit seinem Freund Lucien aus dem Algerienkrieg in den Osten Frankreichs heimgekehrt ist, führt dort das sehr erfolgreiche Bistro „Le Relais Fleurie“. Die Gäste lieben die mit orientalischen Gewürzen verfeinerten Gerichte, doch die eigentliche Vergangenheit des leidenschaftlichen Kochs bleibt im Geheimen. Der Sohn Julien liebt seinen raubeinigen, schroffen Vater und teilt mit ihm sehr bald die Leidenschaft des Kochens. Aber hier zeigt sich sein Vater sehr abweisend, denn er möchte, dass Julien den erfolgreicheren Beruf des Ingenieures ergreift. In dieser emotionalen Familiengeschichte spielt ein verschwundenes Rezeptbuch eine tragende Rolle, und am Sterbebett des Vaters wird Julien die letzten Puzzleteile seiner Familiengeschichte finden.
Angelika Mahr
Jack Durand
„Die Rezepte meines Vaters“
208 Seiten
Kindler Verlag
20,- Euro
Zugfahrt in die Vergangenheit
Die 76-jährige Gladys verschwindet eines Tages aus unersichtlichen Gründen. Sie wohnt mit ihrer kranken Tochter zusammen in einem kleinen kanadischen Dorf. Sie wird gesehen, wie sie in den North-Lander-Zug einsteigt – ohne Gepäck nur mit einer Handtasche. Ihre Nachbarin zugleich beste Freundin wurde ebenfalls nicht von Gladys in ihre Pläne eingeweiht. Sie ist enttäuscht und wütend über das heimliche Verschwinden der Freundin. Warum hat Gladys ihre hilfsbedürftige Tochter einfach allein zurückgelassen?
Wir Leser begleiten Gladys auf ihrer letzten Reise in verschiedenen Zügen durch den Norden Kanadas welche zugleich auch eine Reise zurück in ihre Kindheit ist. Ein stimmungsvoller Roman über ein schicksalhaftes Leben in den tiefen Wäldern Kanadas.
Charlotte Schuh
Jocelyne Saucier
„Was dir bleibt“
253 Seiten
Insel Verlag
22,- Euro
Endlich komplett. Murakamis Meisterwerk.
Ein vorwitziges Mädchen aus der Nachbarschaft, ein alter Offizier aus dem japanisch-chinesischen Krieg, Frauen die wie Mittelmeerinseln heißen, eine entlaufene Katze. Der Held dieses Romans, gerade arbeitslos und von seiner Frau verlassen, hat denk- und merkwürdige Begegnungen. Er taucht ein in eine neue Welt voller Wunder und Magie, findet Parallelwelten auf dem Grund von Brunnen und natürlich sich selbst. Das Buch erschien zuerst in deutsch vor über 20 Jahren in stark gekürzter Übersetzung aus dem Englischen, jetzt endlich komplett in der Übersetzung aus dem japanische Original. Der Roman ist ein phantastisches Leseerlebnis, es bietet so etwas wie Heimat, man kann immer wieder hierher zurück kehren.
Klaus Schönfeld
Haruki Murakami
„Die Chroniken des Aufziehvogels“
1005 Seiten
DuMont Verlag
34,- Euro
Warum nicht ewig bleiben, wo es Grund zum Verweilen gibt?
Warum noch eine Minute bleiben, wenn es Grund zum Aufbrechen gibt?
Eine verschlafene Kleinstadt in Nordindien in den 30ern. Gayatri, stolz und schön wollte immer Künstlerin sein und fühlt sich in ihrer Ehe gefangen. Das Auftauchen des deutschen Malers Walter Spies, der auf dem Weg nach Bali ist nutzt sie um auszubrechen und verlässt ihre Familie von heute auf morgen. Ihr Mann sucht Trost im Buddhismus. Erzählt wird alles aus Sicht des Sohnes, der schier zerbricht am Schmerz über das Verlassenwerden. Ein hinreissender Roman über das Finden des eigenen Lebensweges, geschrieben in exotischen schönen Bildern mit betörender Wehmut. Der einzige Makel des Buches ist sein deutscher Titel, im englischen Original lautet er: All the Lives We Never Lived.
Klaus Schönfeld
Anuradha Roy
„Der Garten meiner Mutter“
416 Seiten
Luchterhand Verlag
22,- Euro
Liebe und Tod
Peg und Lyle, ein Ehepaar Mitte sechzig, warmherzig, liebenswert, sind nach dem Tod ihres Kindes nicht verzweifelt. Sie adoptieren Shiloh, ein sperriges, schwieriges Mädchen. Shiloh bekommt einen Sohn, Isac, und als sie mit ihrem Kind zu ihren Adoptiveltern zieht, überschütten diese sie und den Enkel mit aller Liebe. Doch Shiloh ist dem Führer einer obskuren Sekte verfallen. Peg und Lyle versuchen alles in ihrer Macht stehende, um den Kontakt nicht abbrechen zu lassen. Es gibt Stellen in diesem Buch, die sind von einer unvergesslichen epischen Wucht, Schmerz und Liebe, so tief und berührend wurde das noch nie erzählt.
Klaus Schönfeld
Nickolas Butler
„Ein wenig Glaube“
382 Seiten
Klett-Cotta Verlag
17,- Euro
Indien - aus nie gesehener Perspektive
1854 starten die drei Brüder Hermann, Adolph und Robert Schlagintweit zu einer ahrelangen gigantischen Forschungsreise durch den indischen Subkontinent. Auf mpfehlung und im Geist Alexander von Humboldts verfolgen sie einen universalen Ansatz. Naturwissenschaften, Ethnologie, Geologie, Sprachwissenschaft - alles interessiert die Brüder. Das riesige Unternehmen benötigt einen Dolmetscher, das ist Bartholomäus, ein Waisenjunge aus Bombay. Sprachbegabt, schlau, gerissen. Aus dessen Perspektive wird die Geschichte erzählt. Das ist spannend, witzig, tragisch. Ganz nebenbei sammelt Bartholomäus die gefährlichsten Dinge der Welt für das erste Museum Indiens; dazu gehören: Gefühle, Erinnerungen, Träume. Ganz große Literatur mit historischem Background!
Klaus Schönfeld
Christopher Kloeble
„Das Museum der Welt“
528 Seiten
dtv Verlag
24,- Euro
Auf Spurensuche in einem Slum
Als in seinem Slum Kinder verschwinden, macht sich der neunjährige Jai mit Freunden daran, den Vorkommnissen auf den Grund zu gehen. Wollten die Kinder den Eltern oder dem Slum entfliehen, wurden sie von einem Dschinn entführt, oder fielen sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer. Durch Jais Kinderaugen erkundet der Leser ein indisches Riesenslum, das auch einen Bazar, Schulen und sogar drei Krankenhäuser beherbergt. Hier prallen Tradition und Moderne, Unterordnung und Auflehnung, Solidarität und Rivalität, Verzweiflung und Kreativität, Liebe und Härte aufeinander. Der Roman bedient sich weniger Klischees, als dass er sich mit der wahren, alltäglichen Realität Indiens auseinandersetzt und somit eine ernstzunehmende Stimme für Chancengleichheit und die Bekämpfung von Armut darstellt. Deepa Anappara zeichnet mit ihrem Debüt ein Mosaik des modernen Indiens mit all seinen Facetten. Die Journalistin erhielt für ihre Arbeit zur Auswirkung von Armut und religiöser Gewalt auf die kindliche Entwicklung bereits mehrere Preise und Auszeichnungen.
Saskia Jürgens
Deepa Anappara
„Die Detektive vom Bhoot-Basar“
399 Seiten
Rowohlt Verlag
24,- Euro
Noch längst nicht überwunden
Anhand zweier Familien mit unterschiedlicher Hautfarbe schildert Regina Porter die Sehnsucht der Menschen in den Vereinigten Staaten nach einer Versöhnung zwischen Schwarz und Weiß. Es sah auch so aus, dass Anfang der 60er Jahre eine Hoffnung aufkeimen würde. Martin Luther King marschiert Richtung Washington und spricht von seinem Traum. In welch weite Ferne dieser gerückt ist, zeigt der Roman, der auch als Geschichte eines nicht auslöschbaren Rassismus gelesen werden kann. Porter stellt aber nicht die Sozialkritik in den Vordergrund ihres Buches, sie versteht es in ihrem virtuosen Buch viel von Lebensmut und Menschlichkeit zu erzählen.
Thomas Mahr
Regina Porter
„Die Reisenden“
384 Seiten
S.Fischer Verlag
22,- Euro
Wo bleibt Einstein?
Das ist die Frage, die sich die junge Journalistin Ellen und der Polizist Nils stellen, als sich der berühmte Physiker 1923 in Göteborg einfinden soll. Göteborg feiert sein 300jähriges Jubiläum mit der Ausrichtung der Weltausstellung und Einstein ist eingeladen, zumal er ja in Stockholm seine Nobelpreisrede halten wird. Bis heute wird spekuliert, warum er erst zwei Tage später auftauchte.
Die schwedische Autorin schuf aus diesen Fakten ein Panorama der schillernden schwedischen Großstadt der Zwanziger Jahre. Moderne und die ewig Gestrigen konkurrieren um die Zukunft. Gab es wirklich ein Mordkomplott gerichtet gegen den großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts?
Thomas Mahr
Marie Hermanson
„Der Sommer, in dem Einstein verschwand“
371 Seiten
Insel Verlag
22,- Euro
Dinge die wir zum ersten Mal tun…
…sind unwiederbringlich. Es gibt keine zweite Chance. Antonio leidet seit seiner Kindheit an einer Nervenkrankheit, ein Spezialist in Marseille kann ihm helfen. Zur letzten Behandlung, Antonio ist mittlerweile 18, muss er für zwei Nächte wach bleiben. Sein Vater beschließt diese Zeit zusammen mit seinem Sohn zu verbringen. Beide stehen vor einer völlig neuen Situation, sie beginnen zu planen und miteinander zu sprechen. Über Arbeit, die Ehe des Vaters, die Vergangenheit, Sex, Rauchen, Aberglaube. Sogar über ein Gedicht. „Bis vor 2 Tagen kannte ich meinen Vater nicht“ „Weißt du eigentlich, dass ich richtig Spaß habe.“ Das Leben von Vater und Sohn verändert sich nach den zwei Nächten entscheidend, genauso, wie das Leben des Lesers dieses Buches. Ein Juwel.
Klaus Schönfeld
Gianrico Carofiglio
„Drei Uhr morgens“
184 Seiten
Folio Verlag
20,- Euro
Lassen Sie sich becircen!
Circe, bekannt aus der Odyssee, erzählt hier ihre ganze Geschichte: Geboren als unscheinbare und naive Nymphe verliebt sie sich als junge Frau in einen Sterblichen. Als dieser sie aber nicht erhört und sich einer anderen zuwendet, rächt sie sich mit ihrer Zauberkraft. Als Strafe verbannt sie ihr Vater Helios auf eine einsame Insel. Dort nimmt sie ihr Leben nach und nach selbst in die Hand und entwickelt sich zu einer stolzen und selbstbewussten Frau. Das Ganze ist wirklich hinreißend erzählt. Auch wenn man mit der griechischen Sagenwelt nicht vertraut ist, lässt sich der Roman als herrliche Fantasy lesen.
Klaus Schönfeld
Madeline Miller
„Ich bin Circe“
528 Seiten
Eisele Verlag
24,- Euro
Von Urteilen und Irrtümern
Wir befinden uns im Jahre 1625 in Jütland. Dem bei seiner Gemeinde äußerst beliebten Pastor Sören Qvist, wird in einem Indizienprozess der Mord an seinem Knecht zur Last gelegt. Obwohl er die Tat nicht begangen hat, lässt sich der Pastor zum Tode verurteilen. Was bewegt einen Menschen dazu, für ein Verbrechen einzustehen, das er gar nicht begangen hat? Dieser Frage geht die US-amerikanische Autorin Janet Lewis in ihrem neuen Buch nach. Ihre Romane sind bereits in den 40er und 50er Jahren erschienen, wurden jetzt wiederentdeckt und neu übersetzt. Die Trilogie um strittige Justizfälle wird den Leser, schon allein aufgrund ihrer klaren und brillanten Sprache, begeistern!
Sandra Kohl-Blum
Janet Lewisl
„Der Mann, der seinem Gewissen folgte“
272 Seiten
dtv Verlag
22,- Euro
Rau, dunkel, schillernd…
„Die Wahrheit ist die Lüge, an die du glaubst.“ Wolf erzählt seinem Enkel Karl seine Lebensgeschichte, ein Leben, das mit einer Lüge beginnt. Die ersten 7 Jahre seines Lebens verbringt Wolf sehr einsam, da er angeblich an der Mondscheinkrankheit leidet.
Diese Einsamkeit endet, als die Mutter einen neuen Partner kennenlernt, der an dieser Diagnose zweifelt. Mit dem neuen Partner der Mutter beginnt für Wolf ein anderes Leben, nicht zuletzt, weil er einen Bruder namens Freddy bekommt, der in Wolfs Leben fortan eine entscheidende Rolle spielen wird...
R.R. Sul ist ein Pseudonym, wir wissen also nicht, wer hinter diesem spannenden, manchmal verstörenden Text steht. „Das Erbe“ von R.R. Sul ist jedenfalls ein Buch, das den Leser von der ersten bis zur letzten Seite packt und am Ende staunend zurücklässt.
Sandra Kohl-Blum
R.R. Sul
„Das Erbe“
220 Seiten
dtv Verlag
21,- Euro
72000 Fotografien für den Frieden
Als reicher Banker beschließt Albert Kahn, Menschen der ganzen Welt und deren Lebensweise fotografieren zu lassen, um mit den Aufnahmen Verständnis füreinander zu schaffen und so die Gefahr eines Krieges abzuwenden. Unter anderem Alfred Dutertre, sein Chauffeur, wird mit einer Kamera ausgestattet und begleitet Kahn auf seinen unzähligen Geschäftsreisen.
Nun liegt Albert Kahn, zwischenzeitlich von der Wirtschaftskrise seines Reichtums beraubt, im Sterben, Dutertre pflegt ihn durch seine letzten Wochen und kramt dabei Erinnerungen aus dem Schrank, der die alten Autochrome beherbergt. Erinnerungen an Erlebtes, aber vor allem an Empfundenes, denn auch wenn Dutertre mit Respekt und Zuneigung auf die vergangene Zeit zurückblickt, prallen zwischen den beiden Männern Welten aufeinander.
Saskia Jürgens
Lia Tilon
„Der Archivar der Welt“
249 Seiten
dtv Verlag
22,- Euro
„Wie eine Begegnung zwischen Joseph Conrad und Cormac Mc Carthy“ The New York Times Book Review
Henry Drax ist Harpunierer auf einem Walfangschiff – der Volunteer – das von England aus Kurs in die Arktis nimmt. Drax hat kein Gewissen und ist ein abgrundtief böser Mensch. Mit an Bord ist Patrick Summer, ein Arzt von zweifelhaftem Ruf, der glaubt, schon alles erlebt zu haben. Doch als er Henry Drax einer ungeheuerlichen und abscheulichen Tat überführt, weiß er, dass seine größte Prüfung noch bevorsteht.
Die erschütternde Schönheit und Einsamkeit des Nordpolarmeers bilden die Kulisse dieses dramatischen Romans über Gut und Böse und die tiefsten Abgründe des menschlichen Herzens. Ein Buch wie eine Urgewalt - archaisch, existenziell, gewaltig, brutal und mitreißend!!
Cornelia Beyerle
Ian McGuire
„Nordwasser“
304 Seiten
mare
22,- Euro
Ein Tag und eine Nacht im eiskalten Meer
Charles, Anfang 60, Universitätsprofessor und kurz vor seinem Ruhestand erfährt eines Tages von seiner Frau Maud, dass sie ihre frühere Liebe Silas wiedergetroffen hat und es ihm doch sicherlich nichts ausmacht, wenn sie fortan zu dritt in ihrem Haus leben. Das ist der Moment, in dem Charles beschließt, das zu machen, was er sich seit Jahren vorgenommen hat – er will den Ärmelkanal durchqueren. Charles durchschwimmt sein Leben, seine gescheiterte Liebe, seine Ehe, die Lebenslügen.
Ulrike Draesner erzählt mit beeindruckender Intensität und psychologischem Feingefühl, aber auch sinnlich und voller Humor die Geschichte einer aberwitzigen Kanalüberquerung – vom eisigen, brackigen Wasser, tiefhängenden Regenwolken, der undurchdringlichen Schwärze des Meeres und der zunehmenden physischen Erschöpfung des Schwimmers. Grandios!
Cornelia Beyerle
Ulrike Draesner
„Kanalschwimmer“
176 Seiten
mare
20,- Euro
„Der vergessene Gigant der amerikanischen Literatur“ The New Yorker
Die kleine Stadt Sutton im Nirgendwo der amerikanischen Südstaaten. An einem Nachmittag im Juni 1957 streut der schwarze Farmer Tucker Caliban Salz auf seine Felder, tötet sein Vieh, brennt sein Haus nieder und macht sich mit seiner Frau auf den Weg Richtung Norden. Ihm folgt die gesamte schwarze Bevölkerung Suttons und die weißen Bewohner sitzen auf ihren Veranden und beobachten fassungslos den Exodus. Sie fragen sich, wer jetzt für sie arbeiten soll, wer ihre Felder bestellt, wer noch da ist, um bei ihnen einzukaufen?
William Melvin Kelley erzählt als Afroamerikaner die Sicht der weißen Bevölkerung auf das Geschehen – liberale Stimmen treffen auf rassistische Traditionalisten und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich das toxische Gemisch aus Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit entlädt. Die Wiederentdeckung eines großen modernen Klassikers und ein Roman von beunruhigender Aktualität.
Cornelia Beyerle
William Melvin Kelley
„Ein anderer Takt“
299 Seiten
Hoffmann und Campe
22,- Euro
Lauf zurück ins Leben
Nach ihrem grandiosen ersten Roman „Der Pfau“ wagt die Autorin etwas völlig anderes. Ihr neues Buch ist ein einziger langer Monolog einer Frau mit sich selbst. Langweilig – finden Sie? Da kennen Sie Frau Bogdan aber schlecht.
Die Erzählerin läuft, sie läuft sich zurück in ihr Leben. Nach einem Schicksalsschlag. Läuft. Um wieder zu sich zu finden. Um die Wut, die Trauer und die Leere loszuwerden. Läuft. Am Anfang atem- und kraftlos. Wir hören ihren Gedanken zu während sie läuft, und erfahren dabei eine ganze Menge über die Läuferin, ihr Leben, ihren Schicksalsschlag. Das ist rasant, mitreißend, aus dem Leben gegriffen, versöhnlich, Mut machend, motivierend und tatsächlich auch lustig.
Nicole Deurer
Isabel Bogdan
„Laufen“
Roman
208 Seiten
Kiepenheuer & Witsch Verlag
20,- Euro
Eine Jugend in den in den Siebzigern
Blackbird ist ein legendäres Album der Beatles. Und Musik spielt tatsächlich auch eine wichtige Rolle im neuen Roman von Mathias Brandt. Ebenso wie die erste große Liebe, die Freundschaft, der erste große Abschied und die unverständliche Welt der Erwachsenen. Wir befinden uns in den 70er Jahren, Motte ist 15 und wird mit all dem gleichzeitig konfrontiert. Harte Zeiten. Wären da nicht diese wunderbaren und besonderen Menschen an seiner Seite.
Beim Lesen fühlt man sich fast schon beängstigend real an die eigene Jugend erinnert, fragt sich wo der Autor diese genauen Erinnerungen aufbewahrt hatte und hat doch keine Sekunde lang das Gefühl, ein Jugendbuch zu lesen. Diese Gratwanderung meistert Mathias Brandt virtuos. Mit brandtscher Lakonie erzählt er Mottes Geschichte und wir sind zu Tränen gerührt, müssen schallend lachen und tragen die Figuren noch ganz schön lange mit uns rum.
Nicole Deurer
Matthias Brandt
„Blackbird“
Roman
288 Seiten
Kiepenheuer & Witsch Verlag
22,- Euro
Das Ende einer glücklichen Kindheit
Ichenhausen mit seiner Synagoge und dem entrückten, weltvergessenen jüdischen Friedhof ist eine Stadt in Bayern, in der man sich vielleicht auch heute noch in die Zeit zurückversetzen kann, in der Deutsche und Juden noch friedlich in der Provinz zusammenlebten. Rafael Seligmanns Roman „Lauf, Ludwig lauf!“ stellt diese schwäbische Stadt in den Mittelpunkt seines neuen Romans. Er hält sich dabei an die Erinnerungen seines Vaters Ludwigs. Dessen Jugend war geprägt von dem Wechsel zwischen Synagoge und Fußballplatz. Zu Anfang schien das Leben friedlich, doch nach und nach zersetzt das Gift der nationalsozialistischen Ideologie die Gemeinschaft im Städtchen.
Und so wie dem Jungen auf dem Fußballplatz „lauf Ludwig, lauf“ zugerufen wurde, rettet ihn der gleiche Ruf eines Freundes, so schnell wie möglich seine Heimatstadt zu verlassen, bevor er verhaftet wird.
Thomas Mahr
Rafael Seligmann
„Lauf, Ludwig, lauf!“
Roman
Eine Jugend zwischen Fußball und Synagoge
320 Seiten
Langen/Müller Verlag
24,- Euro
Keine Seite Zuviel
Wenn Max beginnt seine Geschichte zu erzählen, ist man nach wenigen Sätzen gefesselt und berührt. Man hat einen besten Freund gefunden nach dessen Worten man süchtig wird. Max verbringt eine glückliche Jugend im Norwegen der achtziger Jahre, er muss mit seinen Eltern nach Long Island ziehen und sich ein neues Leben suchen. Er lernt Freunde kennen und Mischa, eine Künstlerin seine große Liebe. Max wird Schauspieler und Theaterregisseur und zu erleben wie seine Stücke und Mischas Kunst entstehen ist atemberaubend. Letztendlich geht es um das Suchen und Finden von Heimat und wahrer Familie. Max über mehr als 20 Jahre dabei begleiten zu dürfen, ist ein großes Geschenk.
Klaus Schönfeld
Johan Harstad
„Max, Mischa und die Tet-Offensive“
Roman
1248 Seiten
Rowohlt Verlag
34,- Euro
Stunden der Entscheidung
Miriam Toews Roman „Die Aussprache“ kostet den Leser viel Kraft und manches Mal glaubt man nicht weiterlesen zu können. Und doch kann man nicht aufhören.
In einer Mennoniten Gemeinde kam es über Jahre hinweg immer wieder zu sexuellen Übergriffen an Frauen und Kindern. Nun stehen die Vergewaltiger vor Gericht, doch einige der Gemeindevorderen haben sich auf den Weg gemacht, um die Täter auf Kaution frei zu bekommen.
Acht Frauen beraten nun in den 48 Stunden, die ihnen bis zur Rückkehr der Männer bleiben, was sie tun sollen. Bleiben oder gehen, wie weiterleben mit dieser grausamen Wahrheit?
Ein schmerzhaft ehrliches und wichtiges Buch, das Mut macht, sich mit Macht und Missbrauch auseinanderzusetzen.
Sandra Kohl-Blum
Miriam Toews
„Die Aussprache“
Roman
256 Seiten
Hoffmann und Campe Verlag
22,- Euro
Welch lebenskluge Großmutter
Eines Tages erhält die Studentin Malina ein geheimnisvolles Päckchen. Darin enthalten sind eine Menge Geldscheine und eine Karte von ihrer längst totgeglaubten Großmutter. Die Enkelin sucht nach ihrer Oma Krystina und findet sie in einem Häuschen im Weinviertler Wald, in der Nähe von Wien. Dort führt die alte Dame ein recht unkonventionelles Leben, doch die beiden Frauen nähern sich einander an.
Ein moderner Heimatroman, voll liebenswerter Charaktere, Wärme und Oma Krystinas besonderer Lebensweisheiten.
Sandra Kohl-Blum
Thomas Sautner
„Großmutters Haus“
Roman
256 Seiten
Picus Verlag
22,- Euro
Der Traum von Veränderung
Tobias ist elf Jahre alt und fiebert der ersten Mondlandung im Jahr 1969 entgegen. Seine Mutter ist Hausfrau und sein Vater Ingenieur. Die Familie ist katholisch und wohnt im Stadtteil Köln-Porz und nennt ein schönes Haus mit Garten ihr Eigen. Alles scheint perfekt zu sein, ist es aber leider nicht. Dies wird deutlich als im Nachbarhaus eine politisch engagierte Familie einzieht, die so ganz anders ist. Die Frau ist Übersetzerin, der Mann Philosophieprofessor und die dreizehnjährige Tochter heißt Rosa, benannt nach Rosa Luxemburg. Die so unterschiedlichen Familien freunden sich an.
Als Leser ahnt man, was geschehen könnte, denkt an die Wahlverwandtschaften und liegt mit seiner Vermutung wahrscheinlich doch ganz falsch.
Charlotte Schuh
Ulrich Woelk
„Der Sommer meiner Mutter“
Roman
189 Seiten
C.H. Beck Verlag
19,95 Euro
Betörend und beängstigend
Der junge Leigh bricht zur größten Reise seines Lebens auf. Seine Frau Bea begleitet ihn zum Flughafen, die Zerbrechlichkeit und Verzweiflung dieser Abschiedsszene ist herzzerreißend. Später schreiben sie sich Briefe, er aus der neuen Welt, fasziniert und sich immer mehr entfremdend. Sie schreibt über Naturkatastrophen, Unruhen und Anarchie. Beide Welten sind so bedroht wie ihre Liebe zueinander. Ist Liebe so stark? Man begleitet die beiden mit Bewunderung, Hoffnung und Zärtlichkeit. Dieses Buch ist ein einziges wahr gewordenes Wunder.
Klaus Schönfeld
Michel Faber
„Das Buch der seltsamen neuen Dinge“
Roman
688 Seiten
Kein & Aber Verlag
25,- Euro
Das Winterschlaf-Projekt
Das war´s. Ich war frei. Ich erschuf die Zukunft. Eine Kunststudentin in New York beschließt sich für ein Jahr zurück zu ziehen und so viel wie möglich zu schlafen. Mithilfe von Tabletten versinkt sie in einen Dämmerzustand, zuweilen unterbrochen von Marathon Filme gucken auf ihrem alten Video Recorder. Als der kaputt geht nimmt sie das als Schicksal hin. Ging die Sonne auf oder unter? Wo ist die Fernbedienung? Der Müllschlucker ist die beste aller Erfindungen. Böse und manchmal obszön kommentiert sie die Welt um sich herum. Wie sie sich über die Kunst und Galerieszene lustig macht ist so knackig und klug. Das alles ist so herrlich politisch inkorrekt erzählt, mit wenigen Sätzen entlarvt sie die Lügen der Gesellschaft. Faszinierend!
Klaus Schönfeld
Ottessa Moshfegh
„Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“
Roman
320 Seiten
Liebeskind Verlag
22,- Euro
Was ist gut? Was ist böse?
Sommer in Leipzig. Während der Fußball-WM 2014 lernt Anna den Master-Studenten Jonas kennen. Bei einer Geburtstagsparty eskaliert die Situation: Anna sagt später, Jonas habe sie in dieser Nacht vergewaltigt. Jonas sagt, es war einvernehmlicher Geschlechtsverkehr.
Für beide beginnt nach der Anzeige der Tat ein Spießrutenlauf.
Denn jeder in ganz Leipzig, so scheint es, hat bei dieser Sache eine (ver-)urteilende Meinung.
Durch den neutralen Erzählton und der realitätsnahen Schilderung des gesellschaftlichen Umgangs mit der Thematik sexueller Gewalt, regt dieses Buch zum Überdenken an. Man durchlebt ein emotionales Wechselbad der Gefühle und das ist eine völlig andere Art, dieses aktuelle Zeitgeschehen in literarischer Form anzugehen.
Felicia Kolschefsky
Bettina Wilpert
„Nichts was uns passiert“
167 Seiten
Verbrecher Verlag
19,- Euro
Cortázar erzählt noch einmal. Aus dem Nachlass.
Im Jahr 2009, also 25 Jahre nach dem Tode Cortázars, werden zum ersten Mal die sogenannten „Papeles inesperados“ aus dem Nachlass angekündigt. Aus der unendlichen Fülle an Material entscheiden sich die Übersetzer der nun veröffentlichten deutschsprachigen Ausgabe für die Erzählung „Die Katzen“.
Hier begleitet der Leser den jungen Carlos María von seinem achten Lebensjahr bis zur Volljährigkeit. Seine Spielgefährtin Marta, ein gleichaltriges Mädchen, das im Haus seiner Eltern mitaufwächst, wird ihm zur treuen Komplizin, in die er sich bald verliebt. Die Mutter wacht aber mit Argusaugen über die beiden und Carlos muss sich fragen „Darf ich mich verlieben?“ Er weiß nämlich nicht, ob Marta das Kind einer früh verstorbenen Freundin der Mutter ist, oder ein dunkles Kapitel in der Ehe seiner Eltern. Und so vermutet er hinter dem sich anbahnenden Liebesglück eine tiefe Tragödie …
Wer die Grasharfe, den großen Meaulnes oder Bonjour Tristesse schätzt, ist hier genau richtig. „Die Katzen“: eine poetische Erzählung über das verlorene Paradies der Jugend.
Eva-Maria Mahr
Julio Cortázar
„Die Katzen“
100 Seiten
Lilienfeld Verlag
18,- Euro
Petite hystérie
In „ Ida“ erzählt Katharina Adler die Geschichte ihrer Urgroßmutter Ida Adler-Bauer, die als Freuds „Fall Dora“ unfreiwillig Berühmtheit erlangte.
Mit 18 Jahren wird Ida Bauer, die aus einer wohlhabenden Wiener Kaufmannsfamilie stammt, wegen einiger psychosomatischen Symptomen zu Sigmund Freud in die Berggasse 19 geschickt. Der berühmte Doktor soll die junge Frau von ihren Leiden befreien. Doch bereits nach drei Monaten bricht Ida die Redekur bei Freud, sehr zu dessen Leidwesen, ab. Sie ist nicht damit einverstanden, dass Freud, in alles was sie ihm erzählt, geheime sexuelle Wünsche hineininterpretiert.
Katharina Adler ist es in ihrem 500 Seiten starken Debütroman gelungen ein spannendes Frauenportrait zu zeichnen und uns einen Einblick in eine spannende Familiengeschichte zu gewähren, die 1900 in Wien, ihren Ausgang nahm.
Sandra Kohl-Blum
Katharina Adler
„Ida“
Roman
512 Seiten
Rowohlt Verlag
25,- Euro
Lebensentwürfe in einer Kleinstadt
Elizabeth Strout gehört spätestens seit ihrem Roman „Mit Blick aufs Meer“, für den sie 2009 den Pulitzerpreis erhielt, zu den bekanntesten Autorinnen der USA.
Ihr neuer Roman „Alles ist möglich“ lässt sich allerdings nicht so ganz einfach nacherzählen. Er ist vielmehr ein Reigen einzelner Lebensgeschichten ganz einfacher Leute aus der tiefsten Provinz.
Da ist zum Beispiel ein alter Farmer, der sich daran erinnert, wie vor vielen Jahren sein Hof abbrannte und die Familie auf einen Schlag alles verlor.
Oder Patty, eine Lehrerin, die mit ihrer eigenen Kindheit nie fertig wurde.
All diese Geschichten werden zusammengehalten durch die Figur der Lucy Barton, bereits bekannt aus „Die Unvollkommenheit der Liebe“, einer Schriftstellerin, die in ihre alte Heimat kommt, um ihren neuen Roman vorzustellen.
Eins haben jedenfalls alle Romane von Elizabeth Strout gemeinsam: Man fühlt sich beim Lesen irgendwie getröstet und im Inneren verstanden.
Sandra Kohl-Blum
Elizabeth Strout
„Alles ist möglich“
Roman
256 Seiten
Luchterhand
20,- Euro
Die Zurückgekommene
Ein kinderreiches, armes Paar aus einem Bergdorf in den Abruzzen tritt ihr kleines Mädchen nach der Geburt an eine entfernte Verwandte, die keine Kinder bekommen kann, ab. Das Mädchen wächst in einem schönen Haus direkt am Meer auf. Die Pflegeeltern fördern das intelligente Mädchen wo sie nur können.
Mit 13 Jahren wird sie von ihrem Pflegevater, mit der Begründung, ihre leiblichen Eltern wollen sie wieder zurückhaben, einfach an der Haustüre des ärmlichen Hauses in den Bergen abgesetzt. Sie wird nicht gerade mit überschwänglicher Freude von ihrer Familie empfangen...
Das Essen ist knapp, sie muss sich das Bett mit einer ihrer Schwestern teilen und das Zimmer mit ihren Brüdern.
Sie wird von allen nur Arminuta genannt (die Zurückgekommene).
Diese ungewöhnliche Familiengeschichte erzählt davon, was es bedeutet, den eigenen Platz im Leben zu finden.
Charlotte Schuh
Donatella di Pietrantonio
„Arminuta“
Roman
224 Seiten
Kunstmann Verlag
20,- Euro
Eine Frage des Gewissens
Virginie, eine Pariser Polizistin, die gerade selbst mit ihrem Leben überfordert ist, soll nach einem langen Arbeitstag noch eine Sonderschicht einlegen. Mit ihren Kollegen Aristide und Erik soll sie einen tadschikischen Flüchtling, dessen Antrag auf Asyl abgelehnt wurde, an den Flughafen nach Roissy bringen.
Schnell begreift Virginie, dass den jungen Tadschiken in seinem Heimatland der sichere Tod erwartet. Sie und ihre Kollegen geraten in einen Gewissenskonflikt. Sollen sie ihren Auftrag einfach erledigen? Oder ihren eigenen moralischen Vorstellungen folgen?
Die Fahrt zum Flughafen wird für die drei Polizisten zu einer Art Prüfung und die Spannung im Auto fast unerträglich...
Der Autor des Buches lässt viele Fragen offen und dadurch viel Platz für weitere Diskussionen zu diesem aktuellen Thema.
Charlotte Schuh
Hugo Boris
„Die Polizisten“
Roman
192 Seiten
Ullstein Verlag
20,- Euro
Reichtum bis zum Verdruss
Manager, die sich trotz Kritik immer noch höhere Gehälter auszahlen lassen, smarte Finanzakrobaten, die mit dem Wohl ganzer Volkswirtschaften spielen und Rentner, die ihre letzten Groschen in der Hosentasche zusammenzählen, ob es noch für das nächste Bier reicht. Zornig müsste man sein! Doch nicht so Alexander Schimmelbusch, der den Endzeitroman „Hochdeutschland“ geschrieben hat, der geradezu in parodistischer und satirischer Form den Finanzkapitalismus in der Luft zerpflückt. In seinem Vorleben hat der Autor in jener hochkapitalistisch, abgeschotteten Welt gearbeitet und sein Protagonist Victor – Multimillionär – wird depressiv und sehnt sich nach ein klein wenig Glück, das sich nicht kaufen lässt. „Hochdeutschland“ ist bei aller Komik hochaktuell und so lesenswert, wie das schärfste politische Pamphlet.
Thomas Mahr
Alexander Schimmelbusch
„Hochdeutschland“
Roman
214 Seiten
Tropen Verlag
20,- Euro
Freundschaft
Die 14jährige June Elbus hängt sehr an ihrem Onkel Finn, einem sehr gefragten Maler, um dessen Bilder sich sämtliche Galerien reißen. Doch Finn erkrankt an Aids, eine Krankheit, die in den 1980er Jahren als sicheres Todesurteil gilt, für manche sogar als gerechte Strafe für Homosexualität. In den Monaten vor seinem Tod fertigt Finn ein Porträt von June und ihrer älteren Schwester Greta an, unter anderem auch, um möglichst viel Zeit mit den beiden zu verbringen.
Als Finn schließlich stirbt, weiß June nicht, wohin mit ihrem Schmerz. Doch dann meldet sich Toby bei ihr, Finns Freund, der, der von Junes Eltern als Finns „Mörder“ bezeichnet wird.
Carol Rifka Brunt hat eine tief berührende Geschichte über Verlust und Trauer, aber auch über Freundschaft und die heilsame Kraft der Vergebung geschrieben.
Sandra Kohl-Blum
Carol Rifka Brunt
„Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“
Roman
448 Seiten
Eisele Verlag
22,- Euro
Geschwisterliebe
Es beginnt an einem Sommerabend im Jahr 1939 auf einem Hausboot auf dem Mississippi. Die zwölfjährige Rill wohnt dort mit ihren Eltern und ihren vier jüngeren Geschwistern.
Als ihre Mutter, die Zwillinge erwartet, ins Krankenhaus muss, verspricht das Mädchen ihren Eltern auf ihre Geschwister aufzupassen. Als die Kinder aber alleine sind, werden sie von angeblichen Beamten in ein Waisenhaus gebracht. Rill versucht verzweifelt die Geschwister beieinander zu halten, aber es wird ihr alles abverlangen, vielleicht mehr als sie geben kann...
In diesem Roman thematisiert die US-amerikanische Autorin einen der größten Skandale in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Rill und ihre Geschwister stehen stellvertretend für tausende von Kindern, die ihren Familien zu Unrecht weggenommen wurden.
Charlotte Schuh
Lisa Wingate
„Libellenschwestern“
480 Seiten
Limes Verlag
22,- Euro
Seen, Wälder, starke Frauen
Tommi Kinnunen hat mit seinem, von der eigenen Familiengeschichte inspirierten Debütroman, Finnlands Bestsellerliste gestürmt.
Er stammt aus dem nordfinnischen Kuusamo und hier spielt auch sein Generationenroman, in dem er geschickt drei Frauenschicksale kunstvoll miteinander verwebt. Es beginnt mit Maria, einer Hebamme, die vor über hundert Jahren, in den entlegensten Dörfern und unter schwierigsten Umständen, Kindern auf die Welt hilft und den Frauen das Leben rettet. Marias uneheliche Tochter Lahja ist eine der ersten Fotografinnen des Landes, die mit ihren Bildern ein wertvolles Zeitdokument schafft, mit ihrem Mann aber nicht die Beziehung führt, die sie sich sehnlichst wünscht. Der Kreis schließt sich mit Kaarina, Lahjas Schwiegertochter, die unter der Dominanz der Schwiegermutter leidet und durch einen Dachbodenfund einem alten Familiengeheimnis auf die Spur kommt.
Sandra Kohl-Blum
Tommi Kinnunen
„Wege, die sich kreuzen“
Roman
336 Seiten
DVA
20,- Euro
Der Gnadenthron
Louisiana, 1943, der achtzehnjährige Schwarze Will sitzt in der Todeszelle. Er soll ein weißes Mädchen vergewaltigt haben, tatsächlich waren die beiden ein Liebespaar – jedoch kann sie ihm nicht mehr helfen, sie hat sich das Leben genommen, und Will, erfüllt von Trauer und Schuldgefühlen, resigniert. Die ganze Stadt weiß um die wahren Umstände und auch der Staatsanwalt hat erhebliche Zweifel an der Schuld es jungen Mannes. Doch der weiße Mob, heute würde man vielleicht von Wutbürgern sprechen, fordert Vergeltung. Man fühlt sich beim Lesen sofort an William Faulkners „Als ich im Sterben lag“ erinnert. virtuos schildert Elizabeth Winthrop aus verschiedenen Stimmen und Perspektiven die letzten Stunden vor der Hinrichtung, bevor Will den titelgebenden Mercy Seat, den elektrischen Stuhl, besteigen wird.
Anna Kalmbach
Elizabeth Hartley Winthrop
„Mercy Seat“
Roman
251 Seiten
Beck Verlag
22,- Euro
Schicksal eines Bergbauernhofes
Am Anfang ist es das Glück beim Kartenspiel, das dem Knecht Simon eine Alm hoch oben in den Bergen einbringt. Am Ende ist es wieder ein Glücksspiel, das des Finanzkapitals und des modernen Tourismus, welche beinahe die Lebensleistung von vier Generationen in Frage stellen. Dazwischen steht die mühevolle Arbeit eines ganzen Jahrhunderts, die aus dem kleinen Bauernhof ein ansehnliches Anwesen werden lässt. Geschichte und Geschichten einer bewegten Zeit, die auch in dem entlegenen Tal ihre Spuren hinterlassen. Mit dem Autor des Romans könnte man sagen, dass die Männer auf dem Hof bestimmen, was geschieht, die Frauen aber bestimmen, was geschehen ist.
Stefan Soder lässt eine junge Frau erzählen, wie die Menschen von der Zeit und der Landschaft geprägt wurden, wie sie aber auch selbst in das Rad der Geschichte eingegriffen haben.
Thomas Mahr
Stefan Soder
„Simonhof“
Roman
240 Seiten
Braumüller
20,- Euro
Die Grausamkeiten des Krieges und die Kraft des Vergessens
Wann werden Verfahren eingestellt? Wenn keine Beweise (mehr) vorliegen? Claudio Magris’ neuer Roman „Verfahren eingestellt“ zeigt am Beispiel seiner Heimatstadt Triest, wie sich Kriegsverbrechen und Kollaboration vor 1945 die Hand gaben und wie energisch-hilflos Aufklärung und Anklage sich demgegenüber in den Jahren danach ausmachen. Luisa will Erinnerung wachhalten, ein Museum des Krieges gestalten, dessen Exponate zuvor von einem Mann fast manisch gesammelt wurden - doch sein Wissen um die Namen der Verräter von damals und sein explizites Ziel, mit seinem Waffenmuseum dem Frieden zu dienen, werden ihm letztlich zum Verhängnis. Im Wechsel der schicksalhaften Geschichten und Zeitebenen von gestern und heute entwickelt sich bedrängend beispielhaft und aktuell ein vielschichtiger Roman, in dem die Tragik der Hoffnung, die Schuld dem Vergessen und der bloße Hass der Kraft der Liebe begegnen.
Christian Schulz
Claudio Magris
„Verfahren eingestellt“
Roman
400 Seiten
Hanser
25,- Euro
Leben in Schieflage
„Betrunkene Bäume“ so der Titel des Debütromans von Ada Dorian gibt es wirklich, das sind Bäume, die im auftauenden Permafrostboden in Schieflage geraten. Wie diesen Bäumen, so geht es auch dem Protagonisten Erich, der nahezu 80 Jahre alt ist und dem sein Leben Stück für Stück entgleitet. Seine Frau hat ihn Richtung Sibirien verlassen, dort hat er sie, als junger Geologe, einst kennengelernt, seine kleine Familie hat dort ihre Wurzeln. Jetzt droht seine Tochter Irina mit dem Pflegeheim. Und da ist noch Katharina, die 17jährige Schulabbrecherin, die von zu Hause abgehauen ist, weil Ihr Vater die Familie verlassen hat, Richtung Sibirien. Katharina und Erich lernen sich kennen, beide betrunkene Bäume, werden sie sich gegenseitig stützen können?
Angelika Mahr
Ada Dorian
„Betrunkene Bäume“
Roman
272 Seiten
Ullstein fünf
18,- Euro
Die Kunst des Erinnerns
In seinem Geschichtspanorama „Trutz“ schickt Christoph Hein zwei Familien auf Kollisionskurs mit den Ideologien des vergangenen Jahrhunderts. Dieser Roman über Erinnerung kann nur eine Tragödie sein, war dieses Jahrhundert doch eines, in dem Gedächtnisleistung politisch organisiert und sanktioniert war. Das jeweilige System bestimmte, wie Vergangenheit gespeichert und bewahrt wurde. Wer seine eigene Erinnerung damit nicht in Einklang bringen konnte, hatte ein gefährliches Problem. Ausgerechnet zwischen Hitler-Faschismus, Stalin-Terror und dem SED-Arbeiter- und Bauernstaat siedelt Christoph Hein die beiden Familien Trutz und Gejm an. Das Buch setzt ein mit Rainer Trutz, der den väterlichen Bauernhof in Mecklenburg verlässt und sich im turbulenten Berlin der Weimarer Zeit als Journalist durchzuschlagen versucht.
Angelika Mahr
Christoph Hein
„Trutz“
Roman
477 Seiten
Suhrkamp
25,- Euro
Zwischen den Buchseiten
Eigentlich hatte Ingrid ganz andere Pläne, wie ihr Leben verlaufen sollte. Sie wollte Literatur studieren, reisen, unabhängig und frei sein. Doch dann verliebt sie sich in den attraktiven und wesentlich älteren Literaturprofessor Gil Coleman. Die beiden werden ein Paar, kurze Zeit später ist Ingrid schwanger. Gil verliert seine Professur, er beschließt Schriftsteller zu werden und die beiden ziehen an die englische Südküste. Das Leben dort ist nicht leicht für Ingrid. Das Geld ist knapp, Gil untreu und oft ist sie mit ihren beiden Töchtern allein. Nachts, wenn sie nicht schlafen kann, schreibt sie Briefe an ihren Mann, die sie in den Büchern seiner Bibliothek versteckt. Eines Tages verschwindet sie spurlos. Viele Jahre später, nachdem Gil Coleman glaubt seine verschwundene Ehefrau in der Stadt gesehen zu haben, versuchen die beiden Töchter herauszufinden, was mit ihrer Mutter geschah. Die beiden ahnen nicht, dass die Antwort in den Büchern ihres Vaters zu finden ist. Berührend und mitreißend erzählt Claire Fuller die Geschichte einer Frau, die sich im falschen Leben gefangen glaubt.
Sandra Kohl-Blum
Claire Fuller
„Eine englische Ehe“
Roman
368 Seiten
Piper
22,- Euro
„Im Herzen wohnt das Gefühl, nicht die Vernunft.“
Tatarien in den 30er Jahren: Die junge Bäuerin Suleika lebt mit ihrem deutlich älteren Ehemann Murtasa und der fast 100jährigen Schwiegermutter zusammen. Die Ehe ist kinderlos, alle vier Töchter des Paares starben noch im Säuglingsalter. Im Land herrscht Umbruchstimmung, die sogenannten "Roten Horden" gehen um und sorgen für Angst und Schrecken. Die Bauern sollen allesamt enteignet und umgesiedelt werden. Weil Murtasa sich wehrt, wird er kurzerhand vom Rotarmisten Ignatov erschossen. Suleika wird, wie viele andere auch, nach Sibirien verschleppt. Auf der mehrmonatigen Reise merkt Suleika, daß sie wieder schwanger ist... Inspiriert von der Lebensgeschichte ihrer Großmutter ist Gusel Jalchina ein spannender, historischer Roman gelungen. Voll und ganz schließe ich mich der Autorin Ludmjla Ulitzkaja an, die in ihrem Vorwort zum Roman schreibt: " Dieser Roman besitzt die wichtigste Eigenschaft echter Literatur. Er trifft mitten ins Herz."
Sandra Kohl-Blum
Gusel Jachina
„Suleika öffnet die Augen“
Roman
541 Seiten
Aufbau-erlag
22,95 Euro
Natur vs. Kultur
Ein junges Paar aus Paris möchte gerne ein Sabbatjahr einlegen, Abenteuer und Freiheit erleben, bevor das Leben sie in ihren Bahnen als Finanzbeamtin und Eventmanager gefangen nimmt. Sie zögert zunächst, lässt sich jedoch überreden und sie kaufen eine kleine Yacht um für ein Jahr sich selbst und die Welt zu erfahren. Er steuert eine Insel zwischen Kap Hoorn und den Falklandinseln an, die unter Naturschutz steht. Die Gebirgswelt dieser Insel möchte er ihr, der Bergliebhaberin, gerne zu Füßen legen. Ein Sturm kommt auf und zwingt sie in der verlassenen Walfangstation zu übernachten. Am nächsten Morgen ist das Boot nicht mehr da... Aus einer Unannehmlichkeit wird schnell ein Kampf ums Überleben. Ein modernes Paar, auf sich gestellt und aufeinander angewiesen, bald taucht die Schuldfrage auf und Zweikämpfe, nicht nur verbaler Art, bleiben nicht aus. Ein Buch der Kontraste. Nicht nur spannend durch das robinsonale Abenteuer, auch aus psychologischer Sicht: Was macht die Liebe, wenn es um das nackte Überleben geht?
Angelika Dauter
Isabelle Autissier
„Herz auf Eis“
Roman
224 Seiten
mareverlag
22,- Euro
Die Macht des Mitgefühls
Dieser Roman beginnt mit einem Knall – genauer gesagt einer Explosion. In den frühen Morgenstunden geht das Haus der Familie Reid in Flammen auf. June Reid, zu diesem Zeitpunkt im Garten, ist die einzige Überlebende. Im Haus befanden sich all ihre Lieben – an diesem Tag sollte die Hochzeit ihrer Tochter Lolly stattfinden. Nach den Beisetzungen steigt sie in ihr Auto, vor Trauer ganz taub, und fährt und fährt und fährt. Schließlich mietet sie sich in einem abgelegenen Motel, praktisch am Ende der Welt, unter falschem Namen ein – niemand soll sie finden – sie will mit ihrem Schmerz allein sein. Währenddessen brodelt in der Kleinstadt, die sie hinter sich lässt, die Gerüchteküche und nach und nach erfahren wir, vielstimmig von den Einwohnern erzählt, welche Verstrickungen, welche unglücklichen Umstände, welche Entscheidungen zu der Katastrophe geführt haben. Aber wir erfahren auch, dass es Verbindungen gibt, die fast eine Familie sein können, dass es Hoffnung, sogar Zukunft geben kann - selbst wenn alles verloren scheint.
Anna Kalmbach
Bill Clegg
„Fast eine Familie“
Roman
320 Seiten
S. Fischer
22,- Euro
Des einen Wahrheit ist des anderen Lüge
Peter Katz, Literaturagent, erhält ein Manuskript, das ihn sofort in den Bann zieht. Richard Flynn, der Autor, erzählt von einem Kriminalfall, der über 20 Jahre zurückliegt. Der berühmte Professor Joseph Wieder wurde ermordet – erschlagen in seinem eigenen Haus. Flynn, damals noch Student, hat für den Professor gearbeitet; seine Privatbibliothek sortiert. Er erzählt in seinem Roman, wie er dank seiner Freundin zu diesem Job kam, von einem streng geheimen Forschungsprojekt des Professors, doch just als er zur Tatnacht kommt, (Cliffhanger!) endet das Manuskript. Katz versucht natürlich, den Autor zu erreichen, er hat Großes vor mit dem Roman. Als dieser nicht reagiert, beschließt er, Flynn einen Besuch abzustatten – und steht vor dessen frischgebackener Witwe – das Manuskript ist nirgends zu finden. Doch Katz hat Blut geleckt, und so engagiert er einen befreundeten Journalisten, in der Sache nachzuforschen – und der wird fündig… Er trifft auf Polizisten, Zeugen und auch genannte Freundin von damals – und alle erzählen sie ihm ihre eigene Version der Geschehnisse jener Nacht. Ein Thriller, der eben nicht vor Blut trieft, sondern psychologisch raffiniert komponiert ist. Für Leser von Donna Tartt und Joel Dicker absolut empfehlenswert.
Anna Kalmbach
E. O. Chirovici
„Das Buch der Spiegel“
Roman
384 Seiten
Goldmann
20,- Euro
Eine ungewöhnliche Beziehung…
Ende des 2. Weltkrieges in den Ardennen. Die Französin Emanuelle Pirotte erzählt uns in Anlehnung der Erlebnisse ihrer Großeltern die Geschichte von Renée. Das Mädchen Renée ist sechs oder sieben Jahre alt, genau weiß sie es selbst nicht. Sie ist Jüdin, so hat man ihr gesagt. Seit Jahren wird sie versteckt, bei Nonnen, bei Bauern und zuletzt beim Pfarrer. Der Pfarrer flieht mit dem Mädchen und übergibt es zwei amerikanischen Soldaten, da er das Kind dort in Sicherheit zu wissen meint. Die Soldaten sind in Wirklichkeit jedoch deutsche SS-Offiziere, als „Amis“ getarnt. Man glaubt nun zu wissen, dass Renée nicht mehr lange leben wird, aber der Roman nimmt eine erstaunliche Wendung. Der sonst so eiskalte deutsche SS-Soldat Matthias blickt in Renées dunkle Augen und verschont das Kind. Das Leben des Offiziers ändert sich radikal und eine ungewöhnliche Beziehung entsteht. Eine mitreißende Handlung, die einen das Buch nicht aus der Hand legen lässt, bis man es zu Ende gelesen hat.
Charlotte Schuh
Emmanuelle Pirotte
„Heute leben wir“
Roman
287 Seiten
S. Fischer Verlag
20,- Euro
Ein Himmel für Dreizehnjährige
Endlich mal ein Buch, das Eltern zusammen mit ihren pubertierender Kindern lesen können. Der Roman von Neil Smith spielt in einem Himmel, der ausschließlich 13jährigen vorbehalten ist. Ein außergewöhnlicher Schauplatz mit einer ebensolchen Handlung. Erst in dieser himmlischen Stadt der nicht alternden Teenager erfährt Oliver „Boo“, dass es nicht sein schwaches Herz, sondern eine Kugel war, die ihn ins Jenseits beförderte. Der Autor hat einen Roman über Freundschaft und Rache, aber auch ein Plädoyer für das Verzeihen geschrieben. Egal ob Erwachsener oder Jugendlicher, jeder der das Buch in die Hand nimmt, wird es verschlingen und nach der Lektüre manches anders sehen.
Thomas Mahr
Neil Smith
„Das Leben nach Boo“
Roman
416 Seiten
Suhrkamp Verlag
24,- Euro
Italien in den Sechziger Jahren
Gespannt wartete die Leserschaft auf den zweiten Teil von Elena Ferrantes Tetralogie über die beiden neapolitanischen Freundinnen Elena und Lila. In den 60er Jahren angekommen, scheinen die alten Verhältnisse in Italien aufzubrechen. Neapel wird aber noch lauter und schreiender. Lila ist mittlerweile verheiratet und merkt schnell, dass der, mit dem sie ihr Leben teilt, Mitglied der Mafia ist. Diese Organisation versteht es, sich den neuen Verhältnissen bestens anzupassen. Wie die damalige Zeit, so ist der Roman auch reich an Ereignissen, Hoffnungen die zerplatzen, Freundschaften die zerbrechen und einer gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung, die enttäuscht zu werden droht. Die beiden jungen Frauen versuchen sich mit dem Leben zu arrangieren und trotzdem ihre Freundschaft aufrecht zu erhalten, obwohl sie dabei wetteifern, sich gegenseitig auszustechen.
Thomas Mahr
Elena Ferrante
„Die Geschichte eines neuen Namens“
Zweiter Teil
Roman
624 Seiten
Suhrkamp Verlag
25,- Euro
Lebenskrisen
Julia und Jacob Bloch führen eine glückliche Ehe – könnte man meinen. Doch was geschieht mit einer Paarbeziehung, wenn die Vorstellungen, wie man leben möchte und wo man eigentlich steht, immer weiter auseinander driften. Drei Söhne großzuziehen, dem Vater – Holocaustüberlebender – klar zu machen, dass er ins Altersheim muss und das Gefühl, etwas zu verpassen, führen unvermeidlich zur Ehekrise. Alles läuft aus dem Ruder, als Julia merkt, dass sich Jacob sein sexuelles Glück scheinbar woanders sucht… Jonathan Safran Foer hat nach elf Jahren wieder einen großen Roman geschrieben, der mit seinen treffenden Dialogen ein wunderbares Drehbuch abgeben würde. Und niemand anders als Woody Allen könnte daraus einen großen Film auf die Leinwand bringen. Auf fast 700 Seiten brennt der Autor ein fulminantes Feuerwerk ab, das jüdisches Leben in den USA zwischen Tradition und Moderne auf eine Zerreißprobe stellt.
Thomas Mahr
Jonathan Safran Foer
„Hier bin ich“
Roman
688 Seiten
Kiepenheuer & Witsch Verlag
26,- Euro
Die großen Fragen
Der Roman wurde bereits 2012 in den Niederlanden veröffentlicht, also lange bevor Europa mit den großen Flüchtlingsströmen konfrontiert wurde. Auch der Titel, der sich fortsetzen lässt „Dies sind die Namen der Kinder Israel, die mit Jakob nach Ägypten kamen“ weißt auf eine etwas andere Intention des Autors hin. Pontus Beck ist Polizeikommissar in der fiktiven Stadt Michailopol, irgendwo im Osten Europas. Er hat einen sicheren Job, um sein Liebesleben muss er sich auch keine Gedanken machen, kümmert sich doch seine Haushälter einmal im Monat auch um diese Belange. Und doch fehlt ihm etwas. Als er mit dem Tod eines Rabbis zu tun hat, weckt dies Erinnerungen an ein Lied, dass ihm seine verstorbene Mutter immer vorgesungen hat. Er begibt sich auf Spurensuche. Parallel dazu erzählt Wieringa von einer Gruppe von Flüchtlingen. Dreizehn waren es zu Beginn, fünf sind noch übrig. Ihr Schlepper hat sie irgendwo östlich der Karpaten ausgesetzt, seit Wochen ziehen sie gen Westen, durch die Steppe, werden dabei immer schwächer. Wo wird ihre Reise enden?
Anna Kalmbach
Tommy Wieringa
„Dies sind die Namen“
Roman
272 Seiten
Hanser
22,- Euro
Auf dem Zauberberg
Familie Vandersanden lebt in einer feinen Villengegegend, genannt „Der Berg“. Hier läuft alles in geregelten Bahnen ab; das Personal weiß auf die Minute genau, wann es zu erscheinen hat, Besuch kündigt sich Wochen im Voraus an und selbst die Zeugen Jehovas wissen, zu welcher Stunde in der Woche sie klingeln dürfen. Mutter Mieke, aus reichem, ja, sehr reichem Hause, schwingt in ihrem Architekten-Traum das Zepter. Zur Entspannung kämmt sie die Teppichfransen ihrer heißgeliebten Perser. Vater Stefaan ist ein echter selfmade-man. Er stammt von einem Bauernhof, hat es aber durch Verstand und Engagement mittlerweile an die Spitze eines großen Pharmakonzerns gebracht. Er hat für jede Lebenssituation den passenden Bob-Dylan-Song parat. Vielleicht kommt daher Tochter Sarahs Leidenschaft für die Musik. Sie wächst behütet im Familien-Kokon auf. Eine Ahnung von der echten Welt bekommt sie, als Onkel Jempy, Miekes Bruder, vor der Tür steht. Er ist auf Freigang und hofft auf Hilfe seiner gutsituierten Schwester. Mieke liebt ihren Bruder wirklich sehr, doch hat der Playboy und Hallodri doch sicher einen schlechten Einfluss auf das Töchterchen und überhaupt, was sollen denn die Nachbarn denken??
Anna Kalmbach
Saskia de Coster
„Wir & Ich“
Roman
409 Seiten
Tropen
22,95 Euro
„Meine Frau ist tot und längst begraben.“
So beginnt die Lebensbeichte des 35-jährigen Willem Termeer. Schon von frühester Jugend an fühlt er sich von Vater und Mutter unverstanden und ungeliebt. Zudem bleibt er auch in der Schule immer ein Außenseiter. Alle seine Versuche, mit seinen Mitmenschen in Kontakt zu kommen, scheitern. Nach dem frühen Tod der Eltern ist er materiell abgesichert und er ist nicht gezwungen zu arbeiten. Er glaubt ein künstlerisches Talent in sich zu tragen - aber auch hier gelingt es ihm nicht, produktiv zu werden. So verwundert es nicht, dass auch seine romantischen Annäherungsversuche bei der Damenwelt nicht erhört werden. Es bleibt ihm nur der unbefriedigende Besuch des Freudenhauses. Doch plötzlich scheint sich sein Schicksal zum Guten zu wenden. In Anna, der Tochter seines Vormundes, glaubt er die Frau fürs Leben gefunden zu haben. Doch schon bald merkt Willem, dass Anna nur unter die Haube kommen wollte, die Zuneigung war eher einseitig. Nach dem frühen Tod des gemeinsamen Kindes wendet sich Anna ganz von ihm ab und sucht Trost beim ortsansässigen Pastor. Willem flüchtet daraufhin in die Arme der kostspieligen Mätresse Carolien und es kommt zur Katastrophe. Um für Carolien frei zu sein verabreicht er Anna eine Überdosis Schlafmittel, wir sind am Ende des Romans und zugleich am Ausgangspunkt. Es bleibt offen, wie Carolien auf sein Geständnis reagieren wird...
Sandra Kohl-Blum
Marcellus Emants
„Ein nachgelassenes Bekenntnis“
Roman
320 Seiten
Manesse
26,95 Euro
Ein Käfig voller Narren
Völlig losgelöst von seiner verlegerischen Arbeit überrascht uns der ehemalige Chef des Hanser Verlages mit seiner Lust am Schreiben, seinem literarischen Können und seiner – zumindest bei seinem neuen Roman „Das Irrenhaus“ - bitterbösen Zunge. Man müsste sich doch glücklich schätzen als Archivar, schon dieser Beruf ein Auslaufmodell, mitten in München ein großes Mietshaus zu erben. Doch der Held von Krügers Roman begeht den Fehler, selbst inkognito dort einzuziehen. Der „Geist“ des Vormieters, ein verschollener Schriftsteller, zieht ihn ganz in seinen Bann, er scheint als dessen Kopie selbst bald zu verschwinden. Mehr noch sind es aber die restlichen Mieter, die ihn mit ihren Kapriolen aus der Bahn werfen und uns Lesern wie ein verrückt gewordenes Panoptikum anmuten. Michael Krüger hat aber nicht nur einen satirischen und absurden Roman geschrieben, er wechselt die Tonlage sehr schnell und wird zum Philosophen, zum Sinnsucher in einer geistlosen, verrückten Welt.
Thomas Mahr
Michael Krüger
„Das Irrenhaus“
Roman
192 Seiten
Haymon Verlag
19,90 Euro
Ein tragischer Familienroman - rückwärts erzählt
Lulu, die Besitzerin eines kleinen Strandhotels im äußersten Osten Mallorcas, ist schon über achtzig Jahre alt, als sie zufällig beim Einkaufen auf ihren ersten Ehemann Gerald trifft. Die beiden haben sich lange nicht mehr gesehen. Ihre Ehe liegt schon sechzig Jahre zurück. Lulus Hass ist aber noch genauso frisch wie damals. Sie begrüßt ihn mit den Worten: „Meine Güte, Gerald, du siehst ja total beschissen aus.“. Das Wiedersehen des einstigen Liebespaares endet mit einem Handgemenge und dem darauffolgenden Sturz von den Klippen von Cala Marsopa. Lulu und Gerald ertrinken im Meer. Die Kinder der beiden aus zweiter Ehe kehren daraufhin nach Mallorca zurück - und sie stellen sich immer wieder die Frage, was im Sommer 1948 passierte. Es beginnt eine tragische, doppelte Liebesgeschichte, die rückwärts erzählt wird.
Charlotte Schuh
Peter Nichols
„Die Sommer mit Lulu“
Roman
507 Seiten
Klett-Cotta
22,95 Euro
Das Ende naht
2031. Es ist gerade mal April und ganz Hamburg stöhnt bei 30°C - und unser supereffizienter, superresistenter Raps lässt alles gelb leuchten.
Auf den letzten Metern hat man nun doch den Frauen das Ruder überlassen – aber ob sie es noch herumreißen können?
Der Erzähler dieses Romans, Sebastian Bürger, war mal einer von den Guten: Feminist, Umweltaktivist, Vegetarier.
Doch nun, am Abgrund, hat er die Nase voll – es nutzt ja eh nichts mehr. Er wirft seine Moral über Bord und sperrt seine Frau, dieses egoistische Karriereweib, in den Keller.
Dort harrt sie nun seit mittlerweile zwei Jahren aus, backt Plätzchen oder erwartet ihren Gebieter in „Gebrauchshaltung“ - ganz wie es ihm beliebt.
Natürlich ist das harter Tobak; Dieser Roman polarisiert .Doch das Leben ist kein Ponyhof, oder, um mit einem Zitat aus diesem Roman zu enden „Wenn ich eine Prognose wagen darf: Es werden nicht die mit dem Fahrradhelm sein, die am längsten überleben.“
Anna Kalmbach
Karen Duve
„Macht“
Roman
416 Seiten
Galiani
21,99 Euro
Sumpfratten, Piratenschätze und der tiefe Süden
Vor fünf Jahren hat Wes Trench seine Mutter durch den Hurrikan Katrina verloren. Er unterstützt seinen Vater bei der schweren Arbeit auf dem Kutter, doch als es um Wes‘ Zukunft geht, geraten die beiden in einen heftigen Streit und er haut ab. Um durchzukommen heuert er bei dem alten Seebären Lindquist an. Der kann ihm zwar nicht viel zahlen, doch ihm tut der Junge leid. Lindquist ist in dem kleinen Fischerort nicht sonderlich beliebt. Seine Freizeit verbringt er damit, die Sümpfe mit einem Metalldetektor nach vergessenen Piratenschätzen abzusuchen – was er dabei findet, sind jedoch hauptsächlich die Besitztümer der Katrina-Opfer. Und auch den Gebrüdern Toup ist das Geschnüffel des Alten ein Dorn im Auge. Die beiden betreiben nämlich dort, in den Sümpfen, eine versteckte Marihuana-Plantage – und auch sonst allerlei krude Geschäfte… Hier wird das ganze Südstaaten-Städtchen Jeanette porträtiert, das Tom Cooper mit so viel Liebe, solch einer Empathie, lebendig werden lässt, dass man am Ende richtig traurig ist, nun nichts mehr von den liebgewonnenen Gestalten zu hören.
Anna Kalmbach
Tom Cooper
„Das zerstörte Leben des Wes Trench“
Roman
384 Seiten
Ullstein
22,-- Euro
Ein Jahrhundertpanorama
New York 2001. Ray und Elena lernen sich an einem denkwürdigen Tag kennen. Ray ist ein wenig erfolgreicher Künstler in New York, der nicht klein beigibt und an seinen Durchbruch glaubt, mit dem er die Sehnsüchte seines Großvaters erfüllen will; Elena eine Fischerstochter aus dem Donaudelta, die nach dem letzten Willen ihrer Mutter deren Asche nach Amerika bringt. Zwei Familiengeschichten, die uns von einer Wildnis in die andere führen. Vom rauen Großstadtdschungel New Yorks in die gleichermaßen raue Naturgewalt des Donaudeltas. Erzählend finden Ray und Elena zueinander. Florescu spannt dabei den Bogen zurück bis 1899, über Generationen, die für uns gedanklich gut fassbar sind. Packend und mit einem guten Schuss Humor nimmt er den Leser in dieses harte Jahrhundert mit, erzählt über Einsamkeit, Heimatsuche, Isolation, Entwurzelung und Fremde. Zu Hause und in der Ferne. Das Glück trotzdem nah, weil sich die Menschen so sehr für das Überleben entscheiden. Florescu schafft dabei einen Erzählsog in dem man gern länger verweilen würde ...
Sibylle Schleicher
Catalin Dorian Florescu
„Der Mann, der das Glück bringt“
Roman
327 Seiten
C. H. Beck
19,95 Euro
Rumänien literarisch entdecken
In dieser angenehm unkonventionellen Anthologie (gesammelt wird nach anarchistischem Prinzip, das die Leidenschaft für rumänische Literatur, abseits des international bekannten Kanons, dechiffriert) begegnen wir einem Gedenktafelschriftsteller, dem unvergesslichen Sommerkino in einer Synagoge, der Nachbarschaft des Viertels Km 4-5 in Constanţa, der dörflichen Berichterstattung eines Fußballspiels – mal zynisch, dann liebevoll, oder lakonisch-distanziert, oft poetisch erzählt. Erinnerungen aus dem Jetzt junger rumänischer Autoren treffen auf die zeitlosen Beobachtungen der Schriftsteller vergangener Jahrhunderte. Man wird nicht müde dieses sprachliche Kaleidoskop immer und immer wieder zu drehen: mit jeder Erzählung, die dieser Sammelband enthält, zeigt sich ein neues Muster, eine andere Facette von România.
Eva-Maria Mahr
Elsa Lüder
„Einladung nach Rumänien“
Erzählungen / Anthologie
356 Seiten
Noack & Block
19,80 Euro
Fataler Moment
Ein Sonntagnachmittag im Juni. Michael Turner betritt das Haus seiner Nachbarn, den Nelsons, nicht ahnend, dass sich ihrer aller Leben dadurch für immer ändern wird. - Schnitt – Doch wie ist er überhaupt in diese Nachbarschaft, diese Situation, geraten? Nach dem tragischen Tod seiner Frau, dessen Hintergründe sich nach und nach offenbaren, hält er es nicht mehr aus in ihrem gemeinsamen Haus in Wales und beschließt, sich wieder in den Großstadtdschungel Londons zu stürzen und sich so den Geistern der Vergangenheit zu entziehen. Schnell (zu schnell?) entwickelt sich eine tiefe Freundschaft mit der Familie Nelson. Sie versuchen ihren eigenbrötlerischen Nachbarn zurück ins Leben zu holen – gleichzeitig dient er ihnen als Ventil für ihre Ehekrise. Alles steuert auf jenen schicksalhaften Moment im Hause Nelson zu – spannend bis zur letzten Seite!
Anna Kalmbach
Owen Sheers
„I saw a man“
Roman
304 Seiten
DVA
19,99 Euro
Zwischen Recht und Moral
Eine Gerichtsverhandlung: Auf der Anklagebank Lars Koch, 31, Major der Luftwaffe; ihm wird 163facher Mord vorgeworfen. Was steckt dahinter? Ein Flugzeug wurde von Terroristen entführt, Ziel ein ausverkauftes Fußballstadion. Nachdem verschiedene Versuche, die Entführung gewaltlos zu beenden, nicht fruchteten, beschloss Lars Koch, entgegen ausdrücklicher Befehle, jedoch seinem Gewissen folgend, das Flugzeug abzuschießen, um Schlimmeres zu verhindern. Und nun stehen wir vor Gericht – und gleichzeitig vor einem moralischen Dilemma... Darf man Menschenleben gegeneinander aufrechnen? Sollte man „das kleinere Übel“ wählen? Wie viel Verantwortung halten zwei Schultern aus? Verteidigung und Staatsanwaltschaft kämpfen mit harten Bandagen, doch kann es in diesem Fall richtig und falsch, schwarz und weiß geben? Ein starkes Stück – im wahrsten Sinne des Wortes, und eines, das zu Diskussionen einlädt.
Anna Kalmbach
Ferdinand von Schirach
„Terror“
Theaterstück
176 Seiten
Piper
16,-- Euro
Gesellschaftsroman und Liebeskomödie
So viel leise schmunzeln und dann wieder lauthals lachen musste ich schon lange nicht mehr bei der Lektüre eines Romans. Der ZEIT-Redakteur Adam Sobocynski hat mit „Fabelhafte Eigenschaften“ eine Geschichte geschrieben, der zu einer gelungenen Persiflage unserer ach so aufgeklärten Gesellschaft geworden ist. Man reist gerne in dem Roman, spricht über Kunst und Literatur, gibt sich gebildet und doch ist so viel nur leere Phrase und selbstgerechte Beweihräucherung. Dabei fühlt man sich als Leser ab und an ertappt und sieht sich vor dem eigenen Spiegelbild stehen. Ein gefeierter Künstler malt ausschließlich Tiere am Strand, seinetwegen verlässt eine Journalistin ihren Freund aus einer morsch gewordenen Beziehung. Dieser ist ein desillusionierter Architekt in mitleidiger Schaffenskrise. Auch das weitere Personal des Romans ist durchaus gebildet, doch genauso mit einer reichlichen Portion Eigensinn und Dünkel behaftet, die geradezu den satirischen Ehrgeiz des Autors herausfordert. Allen Figuren merkt man den starken Drang nach Selbstverwirklichung an, einer scheinbaren Freiheit, die zur Posse wird.
Thomas Mahr
Adam Soboczynski
„Fabelhafte Eigenschaften“
Roman
206 Seiten
Klett-Cotta
18,95 Euro
Grün ist die Hoffnung
Die wilden Siebziger. Slaney gelingt nach vier Jahren Haft die von langer Hand geplante Flucht aus dem Gefängnis. Was hat er verbrochen? Gemeinsam mit seinem besten Freund Hearn hat er sich beim Drogenhandel im großen Stil erwischen lassen. Zwei Tonnen Marihuana, mit einem Segelboot von Kolumbien nach Kanada geschmuggelt, damit hätten die Beiden schon mit Anfang Zwanzig fürs Leben ausgesorgt, doch aufmerksame Fischer ließen diesen Traum platzen. Slaney macht sich auf den Weg; zu seiner Freundin, die er vor vier Jahren im Stich gelassen hat und zu Hearn – schließlich muss das verlorene Geld wieder reingeholt werden – der nächste Coup ist schon geplant… Doch die Polizei ist ihm dicht auf den Fersen, ahnt sie doch schon von den Plänen der Beiden. Dem Helden dieser turbulenten Geschichte möchte man am liebsten einflüstern „Komm schon, hör‘ auf dein Herz – eigentlich bist du doch einer von den Guten!“ Ob’s hilft?
Anna Kalmbach
Lisa Moore
„Der leichteste Fehler“
Roman
368 Seiten
Hanser
21,90 Euro
Wenn einer eine Reise tut
Für einen Ethnologen sind Feldexkursionen natürlich das Größte! Und als Nigel Barley von indonesischen Kindern hört, die spitze Ohren genau wie Mr. Spock haben sollen, hält ihn nichts mehr im tristen England. Doch bereits bei der Reiseplanung tun sich erste Probleme auf. Kartenmaterial muss beschafft werden. Also begibt sich Barley in die Landkartenabteilung einer Buchhandlung, dort, wo seiner Meinung nach die wahren Exzentriker des Buchhandels zu finden sind. Keine leichte Aufgabe. Wohlgemerkt, das Buch stammt aus den 80ern… Jedenfalls macht sich unser Held nun trotzdem auf nach Indonesien. Er berichtet uns von abenteuerlichen Irrfahrten, wundersamen Begegnungen und davon, was es mit dem Kuschelbedürfnis der Indonesier auf sich hat. Zwar tut er dies gerne mit einem Augenzwinkern – dass er den Bewohnern dieses Landes der 17.000 Inseln absolut verfallen ist, merkt man diesem wunderbaren Bericht jedoch auf jeder Seite an.
Anna Kalmbach
Nigel Barley
„Auf den Spuren von Mr. Spock“
Reisebericht
284 Seiten
Klett-Cotta
17,95 Euro
Klopfendes Herz
Ein Anruf in den frühen Morgenstunden; Marianne wird ins Krankenhaus gerufen, ihr Sohn habe einen schweren Autounfall gehabt. Sofort eilt sie in die Notaufnahme. Was sie dort erfährt, zieht ihr den Boden unter den Füßen weg: Simons Gehirn wurde irreversibel geschädigt, ihm ist nicht mehr zu helfen. Was sie nicht ahnt, ist, dass im Hintergrund bereits eine Maschinerie im Gange ist mit dem Ziel, Simons Organe zu transplantieren. „Die Toten begraben, die Lebenden reparieren“ - dieses Zitat von Tschechow begleitet das Klinikpersonal. Sie müssen dafür sorgen, dass die vorgegebenen Abläufe eingehalten werden – und sich gleichzeitig um die Angehörigen kümmern. Eine Hauptfigur im eigentlichen Sinne gibt es in diesem Roman nicht – immer wieder wechselt die Perspektive, wird die Situation in einem anderen Blickwinkel betrachtet – das Zentrum ist Simons Herz; wir begleiten es als Leser 24 Stunden lang. Maylis de Kerangal trifft in ihrem Roman genau den richtigen Ton; sie schildert die Abläufe und Emotionen in dieser Situation glaubwürdig und ohne Effekthascherei. Sieben Auszeichnungen hat sie in Frankreich dafür erhalten – verdient.
Anna Kalmbach
Maylis de Kerangal
„Die Lebenden reparieren“
Roman
255 Seiten
Suhrkamp
19,95 Euro
Auf Schatzsuche
Die Geschichte der „Schatzinsel“ kannte früher praktisch jedes Kind. Dass auch die Lebensgeschichte Robert Louis Stevensons wahrlich Stoff für eine Roman-Biographie bietet, stellte der Schweizer Autor Alex Capus eindrucksvoll unter Beweis. Er begibt sich auf die Spuren des ewig kränkelnden Romanciers. In seiner Heimat Schottland lernt er die Amerikanerin Fanny kennen und lieben. Er folgt ihr an die Westküste der USA, doch Fanny, einige Jahre älter als Stevenson, ist noch verheiratet. Um keinen Skandal zu provozieren, darf sie sich nicht mit ihm sehen lassen, bis die Scheidung durch ist. Die Wartezeit vertreibt sich Stevenson in Hafenkneipen. Dort erfährt er wohl auch vom verschollenen Kirchenschatz von Lima – und spinnt daraus „Die Schatzinsel“. Einige Jahre später – das Paar, mittlerweile verheiratet, begibt sich auf eine ausgedehnte Südseereise – letzte Station ist Samoa. Welche Entdeckung macht Stevenson hier? Warum beschließt er, den Rest seines Lebens auf dieser Insel zu verbringen? Das Buch ist bereits vor 10 Jahren erschienen. Wie gut, dass es der Hanser Verlag jetzt in einer wunderschön edierten Ausgabe wieder neu aufgelegt hat.
Anna Kalmbach
Alex Capus
„Reisen im Licht der Sterne“
Roman
224 Seiten
Hanser Verlag
19,90 Euro
Unter Zypressen und Feigenbäumen
Mit den „Verglühten Schatten“ hat die in Karatschi geborene Wahlengländerin Kamila Shamsie gezeigt, mit welch großem erzählerischen Talent sie ausgestattet ist. Nun wurde mit „Die Straße der Geschichtenerzähler“ ihr neuer Roman ins Deutsche übersetzt. Wieder gelingt es Shamsie, ein historisches Thema mit dem Zauber des Orients und einer großartigen Liebesgeschichte zu verbinden. Eine junge englische Archäologin genießt ihre Freiheit, bei Ausgrabungen in Kleinasien mitwirken zu dürfen. Ein Leben jenseits der verstaubten Konventionen scheint auch Raum für eine unbeschwerte Liebesgeschichte zu bieten. Aber der Erste Weltkrieg steht dem im Wege. Die junge Engländerin wählt jedoch nicht den naheliegenden Weg nach Hause. Sie reist weiter nach Osten, um in den blühenden Gärten von Peschawar den Krieg hinter sich zu lassen. Doch die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts werden sie einholen.
Thomas Mahr
Kamila Shamsie
„Die Straße der Geschichtenerzähler“
Roman
384 Seiten
Berlin Verlag
19,99 Euro
Eine neuseeländische Lebens- und Liebesgeschichte
Was für eine Freude, solch ein schön gestaltetes Buch in Händen zu halten. Ein wunderschönes Motiv auf dem Schutzumschlag, das auf dem Buchdeckel in Halbleinen wieder auftaucht. „Lucky Newman“ ist der dritte ins Deutsche übertragene Roman von dem neuseeländischen Autor Carl Nixon. Das Buch erzählt viel mehr als nur eine Liebesgeschichte - es beschreibt zwei Menschen, deren Schicksal durch den Ersten Weltkrieg zunächst eine leidvolle, zuletzt aber glückliche Wende genommen hat. Die Krankenschwester Elisabeth Whitman lebt in einfachen und beengten Verhältnissen. Ihr Mann ist im entfernten Europa an der Front vermisst. Sie versucht mit ihrem vierjährigen Sohn über die Runden zu kommen. Da erhält sie das Angebot, einen sehr wohlhabenden Mann zu pflegen, der mit einer Kopfverletzung aus dem Krieg heimkehrte. Die junge Frau hat eine Therapie, die aus Geschichten besteht, die die Seele heilen lassen.
Thomas Mahr
Carl Nixon
„Lucky Newman“
Roman
240 Seiten
Weidle Verlag
23,-- Euro
Schuld und Sühne
Als der Neurochirurg Etan Grien nach einer anstrengenden Schicht in der Klinik auf dem Heimweg beschließt, mit seinem Auto in der Wüste noch eine Runde zu drehen, geschieht ein folgenschwerer Unfall. Er überfährt einen Mann und als er aussteigt, um nach ihm zu sehen, stellt er fest, dass auch er als Arzt nichts mehr für ihn tun kann. Obwohl ihm vollkommen klar ist, dass dieser Unfall für ihn und seine Familie weitreichende Konsequenzen haben wird - er begeht Fahrerflucht. Am nächsten Morgen steht die Frau des Opfers vor seiner Haustür. In der Hand hält sie sein Portmonee – damit hat sie auch ihn in der Hand. Sie, eine geflohene Eritreerin, fordert von ihm als Entschädigung seinen medizinischen Einsatz in der Welt der Illegalen. In der Begegnung dieser beiden Welten lotet die Autorin die Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen Schuld und Vergebung unerbittlich aus.
Angelika Mahr
Ayelet Gundar-Goshen
„Löwen wecken“
Roman
432 Seiten
Kein & Aber Verlag
22,90 Euro
Das Kloster in Wettenhausen - ein Ort der Einkehr Rechtzeitig zum 150jährigen Jubiläum der Dominikanerinnen des Klosters in Wettenhausen ist jetzt ein eindrucksvoller Bildband erschienen. Allein schon wegen der fotografischen und künstlerischen Qualität wäre er hervorzuheben. Dass das schöne Buch aber auf unsere Startseite kommt, hat auch andere Gründe. Die beiden Fotografen Verena Müller und Manfred Gaida wohnen in Langenau und haben durch mich das bayrische Kloster lieben gelernt. Als Buchhändler bin ich natürlich glücklich mit meinen Bildinterpretationen einen kleinen Teil zum Gelingen des Buches beigetragen zu haben. Bewegend und authentisch sind die Lebensgeschichten der Schwestern, deren Texte das Fotobuch bereichern. Das Kloster in Wettenhausen- wahrlich ein Ort der Einkehr- der aus der Zeit gefallen zu sein scheint und um seine Zukunft bangt. Sie können hier meine Rede zur Vernissage anlässlich der Ausstellung der Bilder im Schulmuseum Ichenhausen nachlesen.
Thomas Mahr
Verena Müller und Manfred Gaida
„Orte der Einkehr“
Fotobildband
144 Seiten mit 104 Fotos
Wasmuth Verlag
29,80 Euro
Eindringlich, schön und nicht aus der Hand zu legen
Also wenn das kein Heimatroman ist, der neue Roman „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler. Heimatroman ja, aber darüber hinaus ein ergreifende literarische Kostbarkeit. Der Autor hat ein Gespür für Originale in besonderer Umgebung. Sei es die abgelegene Tankstelle, sei es das Kiosk oder eben wie im neuen Buch ein Bergdorf, es sind Orte, die sich geradezu für Antihelden eignen. Seethalers männliche Hauptfiguren sind Randgestalten, die versuchen in ihrer Welt zu Recht zu kommen. Aufgrund ihrer vermeintlichen Schwächen sind sie aber von Anfang an umso liebenswerter. Mit seinem Taglöhner und Seilbahnbauer Egger hat Seethaler jetzt eine ganze Lebensgeschichte aufgeschrieben. Ein Waisenkind, der kleine Egger, kommt aus der großen Stadt in ein Alpendorf zum Onkel. Dieser lässt kein gutes Haar an der Mutter und dem entsprechend wird der Bankert behandelt. Das Alpendorf verlässt der junge Mann nur, um als Soldat in den Zweiten Weltkrieg zu ziehen. Er findet eine Frau, seine Marie, die er aber auch recht bald tragisch wieder verliert. Genügsam, ein wenig naiv, aber immer ganz bei sich selbst erlebt Egger den Wandel seines Dorfes, als die Berge touristisch erschlossen werden.
Seethaler leiht sich zwar die Sprache und die Stilmittel des Heimatromans aus, vermeidet aber jeden Kitsch und jegliche Melodramatik. Ein Buch zum sofortigen Verzehr, hinreißend erzählt und ein wohltuendes Original der neuen deutschen Literatur.
Thomas Mahr
Robert Seethaler
„Ein ganzes Leben“
154 Seiten
Roman
Hanser Berlin
17,90 Euro
Schweigen ist Gold
Fast wie ein düsteres Märchen mutet die Lebensgeschichte von Karl Heidemann an. Bereits als kleiner Junge zieht er sich auf der Flucht vor der lauten, dröhnenden Welt in den Keller seines Elternhauses zurück. Nur dort ist ihm, der ein höchstsensibles Gehör hat, das Leben einigermaßen erträglich. Er ist dabei, als sich seine Mutter das Leben nimmt – und erfährt so die erlösende Stille des Todes. Dieses „Geschenk“ trägt er in die Welt hinaus; ihm auf der Spur Schubert, ein eigenbrötlerischer Kommissar. Bis er eines Tages auf die taubstumme Marie trifft – und die Liebe kennenlernt... Dieser Roman ist weniger ein klassischer Krimi, vielmehr erinnert er an „Schlafes Bruder“ oder „Das Parfum“ - eine literarische Seelenkunde eines Andersartigen.
Anna Kalmbach
Thomas Raab
„Still – Chronik eines Mörders“
Roman
357 Seiten
Droemer Verlag
19,99 Euro
Das andere Småland
Småland in den 70ern. Klaas lebt mit seiner Familie auf einem abgelegenen Bauernhof. Für ihn ist es das Größte, durch die Natur zu streifen und Tag und Nacht Vögel zu beobachten. So entflieht er den bäuerlichen Pflichten, die ihm aufgezwungen werden; umso mehr, da sein Vater sich immer merkwürdiger verhält und schon Gerüchte über ihn im Ort kursieren. Hoffnung schöpft Klaas, als Veronika, ein Mädchen aus der Großstadt, in das verschlafene Dorf zieht und sich tatsächlich für ihn und seine Vögel zu interessieren scheint. Doch die Situation Zuhause mit dem irrlichternden Vater spitzt sich immer weiter zu… Ausgezeichnet mit dem „August-Preis“ als bestes schwedisches Buch des Jahres hat Bannerhed mit diesem Roman ein poetisches Meisterwerk geschaffen.
Anna Kalmbach
Tomas Bannerhed
„Die Raben“
Roman
448 Seiten
btb Verlag
21,99 Euro
Liebe auf den ersten Blick
Als Alfred Polgar 1927 in den Wiener Kammerspielen Marlene Dietrich zum ersten Mal sieht, ist diese noch ein Revuegirl und erst am Beginn ihrer Karriere. Und trotzdem entsteht damals zwischen dem Kritiker und dem zukünftigen Weltstar eine lebenslange Freundschaft. Fast 70 Jahre sollte es dauern, bis Polgars Würdigung der großen Diva auf gedrucktem Papier erscheint. Es ist mit 70 Seiten der längste Text, den der Feuilletonist und Meister der „kleinen Form“ je geschrieben hat. Es ist eine literarische Bewunderung der großen Schauspielerin, die ihrerseits den berühmten Literat in der Zeit der Emigration finanziell unterstützte. Ganz gegen seine Gewohnheit gerät der sonst so anspruchsvolle Kritiker ins Plaudern. Seine Hommage an Marlene, gedacht als Biografie, die nie vollendet wurde, ist vielleicht der schönste Text, der je über die Diva geschrieben wurde.
Thomas Mahr
Alfred Polgar
„Marlene“
Bild einer berühmten Zeitgenossin
160 Seiten
Zsolnay Verlag
17,90 Euro
On the Road
„Hätte, wäre, würde, wenn“: Durch diese vier Worte hat es Tanguy Viel geschafft, seine Leidenschaft für die großen amerikanischen Romane in ein kleines feines Buch zu verpacken. Der Autor, sonst Verfasser von (seiner Heimat geschuldeten) durch und durch französischen Romanen, erzählt die Geschichte eines amerikanischen Universitäts-Professors mit gebrochenem Herzen, der sich auf die Spuren des Musikers Jim Sullivan begibt. Dieser soll sich, der Legende nach, einst in der Wüste Arizonas einfach in Luft aufgelöst haben. Viel packt in seinen Roman alles, was die amerikanische Literatur traditionell zu bieten hat: verhängnisvolle Affären, Alkohol, Glücksspiel, 9/11, endlose Highways und dazu den passenden Soundtrack. Dabei beweist er sich als Erzähl-Künstler. Er lässt den Leser teilhaben an seinem Vergnügen, diese Geschichte zu schreiben und nimmt ihn mit auf eine Reise, auf der kein Auge trocken bleibt.
Anna Kalmbach
Tanguy Viel
„Das Verschwinden des Jim Sullivan“
128 Seiten
Roman
Wagenbach Verlag
16,90 Euro
Geschichte lässt sich nicht verdrängen
Sofi Oksanen, von „Der Zeit“ als „Finnlands dunkle Königin“ betitelt, ist der Star einer Literaturszene, die sich von Finnland, dem Land ihres Vaters, bis nach Estland, dem Land ihrer Mutter, erstreckt. „Die meisten im Westen wissen gar nichts über Estlands jüngste Vergangenheit und die Folgen des Zweiten Weltkriegs. Sie wissen auch nichts über die sowjetische Besatzung, was sie für die Menschen in den kleinen osteuropäischen Ländern bedeutete und was sie für Konsequenzen bis heute hat.“ Diese Zeit ist ihr Thema, von den Schicksalen dieser Menschen möchte sie berichten. In ihrem Roman „Als die Tauben verschwanden“, dem dritten in Deutschland erschienenen Buch, erzählt sie die Lebensgeschichten zweier Paare. Die Geschichte der Vier beginnt in Estland zur Zeit der deutschen Besatzung. Während Roland sich den Partisanen angeschlossen hat und sich in den Wäldern versteckt hält und seine Verlobte Rosalie den Hof versorgt, versucht sein Vetter Edgar sich bei den Besatzern lieb Kind zu machen und sich nach oben zu arbeiten – um jeden Preis. Seine Frau Judith, zu der er keinen Kontakt mehr hat, versucht, in Tallinn über die Runden zu kommen. Sie unterstützt ihren Schwager Roland im Untergrund, gerät dabei jedoch in ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel. Sprung in die 60er – dem zweiten Teil des Romans – Estland ist nun unter sowjetischer Besatzung. Trotz seiner Vergangenheit giert Edgar auch jetzt wieder nach Macht – und macht auf seinem Weg nach oben nicht einmal vor seiner eigenen Familie halt.
Anna Kalmbach
Sofi Oksanen
„Als die Tauben verschwanden“
432 Seiten
Roman
Roman Kiepenheuer & Witsch
19,99 Euro
Das Ende des amerikanischen Traums
Die USA sind am Boden. Durch verheerende Naturkatastrophen und eine kaputte Wirtschaft sind die Tage des Wohlstands gezählt. In den Städten verbreitet eine anarchistische Terrorgruppe Angst und Schrecken. Wer es sich leisten kann, flieht nach Südamerika oder versucht, zumindest einen Platz in einer der geschützten „Communities“ zu ergattern. Cal und Frida haben diese Möglichkeit nicht. Sie fliehen aus dem Großstadt-Moloch in die Wildnis und führen dort in der Abgeschiedenheit ein autarkes, beschauliches Leben. Als Frida bemerkt, dass sie schwanger ist, bekommt sie es jedoch mit der Angst zu tun. Das Paar begibt sich auf die Suche nach einer geheimen Kommune, die versteckt im Wald lebt. Doch welchen Preis sind sie bereit, dafür zu zahlen?
Anna Kalmbach
Edan Lepucki
„California“
Roman
416 Seiten
Blumenbar Verlag
20,-- Euro
Große Dramen schaffen große Prosa
Die Winterzeit ist die beste Gelegenheit, endlich wieder einen richtig dicken Roman zu lesen. „Ines und die Freunde“ von der spanischen Autorin Almundena Grandes ist so ein Schmöker, in den man eintaucht in eine andere Zeit, mitten in den Konflikt zwischen dem faschistischen Spanien und den Kommunisten, die die Diktatur Francos stürzen wollten. Der Roman liefert uns blutigen Bürgerkrieg, große Gefühle und schlimmen Verrat, verletzte Eitelkeiten und wie Seifenblasen zerplatzende revolutionäre Träume. Reichlich Stoff für große Prosa. Natürlich darf die große Liebe nicht fehlen. Ines, Tochter aus reichem Madrider Haus, rebelliert gegen die Eltern und damit gegen das Regime von Franco und verliebt sich in einen kommunistischen Führer, der da glaubte, mit 4000 Mann könne man gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auch Spaniens Faschismus aus dem Weg räumen.
Thomas Mahr
Almudena Grandes
„Inés und die Freude“
Roman
672 Seiten
Hanser Verlag
24,90 Euro
Vielleicht das schönste Buch des Jahres…
…Zumindest aber die glücklichste Verknüpfung, die man sich zwischen Kunst und Bilderbuch vorstellen kann: Alessandro Sannas Jahreszeitenblick auf einen Fluss. Ohne Worte erzählen die weichgezeichneten Aquarelle vom Jahreslauf. Als feine Silhouetten erkennt der Betrachter die Figuren, die sich am Ufer bewegen und ihre Geschichten erleben: die Überschwemmung im Herbst, die Geburt eines Kalbs im Winter, die Hochzeit im Frühling und den Ausbruch eines Tigers beim Jahrmarkt im Sommer. Die Bilder untereinander angeordnet wie in einem Fotoalbum laden geradezu ein, meditativ einzutauchen und selbst auf eine Phantasiereise zu gehen. Jeder wird gebannt sein von diesen Zeichnungen und selbst die Gedanken entlang des Flusses wandern lassen.
Thomas Mahr
Alessandro Sanna
„Der Fluss“
Kunst- und Bilderbuch
112 Seiten
Hammer Verlag
29,90 Euro
Lesen ist die beste Medizin
Was, Sie lesen noch nicht, würden es aber gerne tun, nur wie und was? Da haben wir das beste Mittelchen für Sie - greifen Sie zur Romantherapie: Von A wie Abschiede bis Z wie Zeh; oh weh (!) sich anstoßen – die Romantherapie hat für jede Lebenslage den passenden Buchtipp parat! So können Sie sich das Warten auf Weihnachten verkürzen oder sich bei einer Erkältung mit schönen Empfehlungen aus dieser Sammlung kurieren. Außerdem bietet das Buch auch Hilfe bei Leseleiden wie "Zeit zum Lesen; keine haben” oder "Überspringen von Seiten; die Neigung dazu haben”. Natürlich sind diese amüsanten Lesekuren auch für Leseprofis ein Vademekum. Der Inhalt Ihres Bücherregals bekommt plötzlich völlig neue Anwendungsmöglichkeiten.
Anna Kalmbach
Ella Berthoud, Susan Elderkin
„Die Romantherapie“
253 Bücher für ein besseres Leben
431 Seiten
Insel Verlag
10,-- Euro
Ausstieg in die Einsamkeit
Alle Zeichen stehen auf Neuanfang an einem sehr kalten, sehr frühen Morgen im Mai, im Schärengürtel zwischen Schweden und Finnland. Der neue Pastor Petter Kummel, seine Frau Mona und die gemeinsame Tochter Sanna werden von einem Empfangskomitee herzlich begrüßt, als sie am Steg der Pfarrinsel mit dem Boot anlegen. Was folgt, ist die Geschichte eines Pfarrers, der hochmotiviert seiner Berufung nachgeht. Er kommt den Inselbewohnern absolut unvoreingenommen entgegen, trägt sein Herz auf der Zunge und erobert die Gemeinde mit seiner offenen Art im Sturm. Auch, als sich abzeichnet, dass auf den Inselgruppen doch nicht alles so idyllisch ist, wie es anfangs schien, hält er unbeirrt an seiner Haltung fest. Seine pragmatische, rührige und bodenständige Frau hält ihm derweil den Rücken frei, kümmert sich um Haus, Hof und Kind und sorgt zwischendurch dafür, dass der Herr Pfarrer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird. Ganz irdische Probleme also auch für einen Mann mit himmlischem Auftrag…
Wiltrud Wolff
Ulla-Lena Lundberg
„Eis“
528 Seiten
Roman
mareverlag
24,-- Euro
Eine schwere Entscheidung
9. Juli 1961. Familie Chassaing. Suzanne, die Mutter, macht sich zurecht, trägt ein Kleid nach neuster Mode, putzt sich heraus. Das tut sie für ihren Sohn Henri, der in Algerien stationiert ist. Regelmäßig wird der Fotograf ins Bauernhaus bestellt; er dokumentiert den Einzug der Moderne auf dem Hof. Heute ist der große Tag – der erste Fernsehapparat im Dorf wird bei Familie Chassaing angeliefert. An diesem Tag möchte Suzanne ihren Sohn in der Ferne teilhaben lassen. Damit er weiß, wie sehr sie ihn vermisst und ihm bei seiner Rückkehr ein schönes Heim bieten wird. Die beiden verbindet viel, hatten sie während des Krieges doch nur sich. Der Vater, Albert, hat nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft seinen Platz in der Familie nicht mehr wiedergefunden. Daran vermochte auch die Geburt des zweiten Sohnes, Gilles, nichts zu ändern. Gilles, ein Büchernarr durch und durch, hat in der Schule Schwierigkeiten; seine Versetzung ist gefährdet. Albert gibt ihn deswegen unter die Fittiche des Nachbarn, einem pensionierten Lehrer. Dort weiß er seinen Sohn gut aufgehoben. Doch wohin gehört er, Albert? Er hat immer versucht, die besten Entscheidungen für seine Familie zu treffen; wie es mit ihm weitergehen soll, entscheidet er am Ende dieses Tages. Dieses Buch ist unsere literarische Entdeckung des Jahres, die man nicht nur lange im Kopf, sondern auch im Herzen mit sich trägt.
Anna Kalmbach
Jean-Luce Seigle
„Der Gedanke an das Glück und an das Ende“
224 Seiten
Roman
C.H. Beck
18,95 Euro
Eine Liebe in finsteren Zeiten
„Ich bin eine Hebamme vor Gottes Gnaden und schreibe diese Zeilen für dich, Johannes. Mir hat der Herr, der Allmächtige, in seiner Weisheit vor allen Menschen der Welt die Fähigkeit verliehen, den einen Leben zu schenken und es anderen zu nehmen. Beides habe ich in meinem Leben, das im Weltenbrand untergegangen ist, getan, abwechselnd Leben und Tod gegeben, und weiß nicht, ob der Verlauf meines Lebens durch das Trommeln in dieser Zeit oder dadurch bestimmt war, dass der Herr es letztlich so gewollt hat. Diese Fähigkeit ist mein Kreuz und meine Rettung, meine Bürde und meine Strafe und hat meinem Leben einen gewundenen Pfad weit fort von meinem Zuhause und von dir, mein Liebster, vorgegeben.“ Katja Kettu erzählt in ihrem Roman das Leben ihrer Großmutter, genannt Wildauge. Diese ist Hebamme in ihrem Heimatdorf Petsamo in Lappland, von den Dorfbewohnern misstrauisch beäugt, auch als Tochter eines „Roten“, der vor vielen Jahren verschwunden ist. Johannes begegnet sie zum ersten Mal 1944, als die Deutschen, zu diesem Zeitpunkt mit Finnland verbündet, in ihrem Dorf auftauchen. Sofort verliebt sie sich, die im Dorf trotz einer kurzen Ehe als alte Jungfer galt, Hals über Kopf in ihren Teutonen. Große Chancen rechnet sie sich allerdings nicht aus, denn die deutschen Soldaten werden sofort von den „Lottas“ umschwärmt. Als Johannes in ein Kriegsgefangenenlager abkommandiert wird, setzt sie alle Hebel in Bewegung, um ihm als Krankenschwester dorthin zu folgen. Dort angekommen wird ihr schnell klar, dass dort, in diesem Lager, Ungeheuerliches vorgeht und dass auch Johannes ein schreckliches Geheimnis mit sich trägt. Trotzdem hält sie weiterhin an ihrer Liebe zu ihm fest, auch, als ihre Situation im Lager sich dramatisch zuspitzt. Dieser Roman, der so viel mehr ist als eine tragische Liebesgeschichte, gehört zu dem Heftigsten, Bewegendsten, das ich je gelesen habe. Man liest diese Geschichte nicht nur, man taucht in sie ein, spürt sie geradezu, und das tut auch weh. Muss es auch, wenn man sich immer wieder vergegenwärtigt, dass dies die Geschichte einer Frau ist, die tatsächlich gelebt, geatmet und so verzweifelt geliebt hat. Es ist keine leichte Lektüre - dieses Buch hinterlässt Spuren.
Anna Kalmbach
Katia Kettu
„Wildauge“
416 Seiten
Roman
Galiani
19,99 Euro
Steinchen der Erinnerung ergeben ein Mosaik der Kindheit
Lange hat mich kein Buch mehr so herausgefordert in der Schatzkiste meiner eigenen Kindheitserinnerungen zu kramen, um Ähnliches zu entdecken wie Karl-Markus Gauß dies in seinem Buch „Das Erste, was ich sah“ getan hat. Die magische Stimme aus dem alten Kastenradio mit dem grünen, magischen Auge, die speckige, graue Lederhose mit dem rotkarierten Hemd und die nachmittäglichen Turnübungen auf der Teppichklopfstange im Garten, das sind alles Bilder, die auftauchen aus einer scheinbar längst vergangenen Welt. Wenn Gauß von seiner Kindheit erzählt gerät dies aber nie ins Nostalgische, einfach und klar, mit einer sprachlichen Sogwirkung taucht vor uns Lesern ein Junge auf, der sich nach und nach die Welt erschließt. Da sind die donauschwäbischen, aus der Batschka geflüchteten Eltern, der vergangene Krieg noch ganz nah und der Kalte Krieg längst Alltag in der Salzburger Vorortsiedlung. In diesem Milieu verbringt der Junge seine Kindheit und der erwachsene Gauß blickt mit seinem Buch in einen Spiegel, der mittels Sprache Vergangenheit auftauchen lässt.
Thomas Mahr
Karl-Markus Gauß
„Das Erste, was ich sah“
112 Seiten
Zsolnay Verlag
14,90 EUR
Den Tod selbst bestimmen
Was ist das für eine Nachricht, die die Tochter von ihrem Vater erhält. Er bittet sie, im Alter von 88 Jahren, nach einem schweren Schlaganfall und bitterer Diagnose, es ihm zu ermöglichen, selbstbestimmt aus dem Leben gehen zu können. Dabei hat er als Kunstsammler ein so vitales, lebensbejahendes Dasein geführt, die Liebe in allen Spielarten genossen und zur Pariser Boheme gezählt. Der Wunsch des Freitods führt die Familie in einen großen Gewissenskonflikt, da ja letztendlich die Angehörigen zurückbleiben und den Verlust des einst allgegenwärtigen Vaters zu verantworten haben. Emanuele Bernheim hat aber nicht ausschließlich einen weiteren Bericht über aktive Sterbehilfe geschrieben, nein, ihr Buch feiert gleichzeitig ein Fest des Lebens. Mit großem literarischem Talent beschreibt sie die Geschichte ihrer Familie, über das Glück im Leben Erfüllung zu finden, das eben auch die Freiheit zu sterben einschließt.
Thomas Mahr
Emmanuele Bernheim
„Alles ist gutgegangen“
208 Seiten
Hanser Berlin
18,90 Euro
Camus und Tschechow in einem…
Was hat da der Hanser Verlag für einen großartigen russischen Exilautor für uns Leser neu entdeckt. War schon „Das Phantom des Alexander Wolf“ ein literarisches Juwel, so ist das jetzt übersetzte Erstlingswerk erst recht ein Stück Weltliteratur. Nach Jahren findet Kolja im Pariser Exil seine angebetete Claire am Krankenbett wieder. Drei Jahre ist sie, die Angebetete, älter, als sich der junge Mann im vorrevolutionären Russland 1917 in Sankt Petersburg unsterblich verliebt. Jetzt, Jahre später, wacht er über den Schlaf seiner Geliebten und träumt sich fiebrig in die Vergangenheit zurück. Soldat wurde er, auf Seiten der Regierungstreuen, erlebt in diesem grausamen Bürgerkrieg Niederlage um Niederlage und erkennt auf der Krim, dass ihm nur noch Flucht und unweigerlich das Exil bleibt. Unmöglich in wenigen Sätzen dieses 1930 zum ersten Mal erschienene Buch zu beschreiben, man muss es einfach lesen.
Thomas Mahr
Gaito Gasdanow
„Ein Abend bei Claire“
Roman
Übersetzung Rosemarie Tietze
192 Seiten
Hanser
17,90 Euro
Ein Hundert-Euro-Schein auf Reisen
Gleich vorneweg: Dieses wunderbare Buch muss gerettet werden. Gäbe es einen Negativpreis für hässliche Buchumschläge, Wolf Wondratscheks Roman „Mittwoch“ wäre ganz vorne dabei. Grau in Grau mit einer undefinierbaren Glaskugel, schwerer kann man es dem Käufer in unserer visuellen Zeit kaum machen. Dabei ist diese Reise eines Geldscheins alles andere als grau. Ein platonisch liebender Boxer, ein geheimnisvoller Antiquitätenhändler oder eine Geigenspielerin, alles Figuren, die den Film aus Episoden zu einem kleinen Meisterwerk der Prosa machen. Nicht zu vergessen, die Herren im rauchfreien Tabakladen, die über Rauchverbote schwadronieren und dabei auf die gute alte Zeit zurückblicken.
Wondratschek wechselt mit den Milieus die Sprache wie ein Jongleur, der nicht lauter gleiche Bälle wirft, sondern mit Diversem seine Kunststücke vollführt. Philosophisches Bonmot wechselt mit Profanem, fast wie im richtigen Leben; ein Wechselspiel der Befindlichkeiten. Wir begleiten die Figuren des Romans ein kurzes Stück auf ihrer Wegstrecke und bekommen doch gleichzeitig ein Bild unserer Gesellschaft kredenzt. Vergessen Sie alles was vor diesem Roman so über diesen Autor geschrieben wurde. Rechtzeitig zu seinem siebten Lebensjahrzehnt kann man einen völlig neuen Wolf Wondratschek entdecken.
Thomas Mahr
Wolf Wondratschek
„Mittwoch“
244 Seiten
Roman
Jung und Jung Verlag
22,-- Euro
Man trifft sich dreimal im Leben
Ein Buch, ein köstliches Lesemenü in drei Gängen, ein selten schönes Plädoyer für die Liebe ist Perez Reverte mit seinem neuen Roman gelungen. Was steckt in diesem Roman nicht alles drin. Die Begegnung des jungen Tänzer und der jungen und schönen weiblichen Begleitung eines Komponisten auf einem Ozeandampfer, der Beginn einer großen Liebe, dann Buenos Aires mitten in den zwanziger Jahren, mit seinen zwielichtigen Kneipen und der Hochzeit des Tangos. Jahre später treffen sich die beiden wieder an der Cote d’Azur, allen Widrigkeiten des Zeit zum Trotz erwacht die Liebe der Beiden neu. Wieder werden sie getrennt und die südliche Sonne Italiens wird der dritte Ort dieser unsterblichen Liebe… Damit nicht genug. Der Roman ist auch ein Ausdruck der Wehmut. Die Welt heute ist klein geworden und hat ihren Glanz verloren. Perez- Reverte entführt uns mit seinem Buch in eine Welt, die noch nicht entzaubert war und bei allem Schrecken der Zeit immer auch einen Triumph des Lebens widerspiegelt.
Thomas Mahr
Arturo Pérez-Reverte
„Dreimal im Leben“
523 Seiten
Roman
Insel Verlag
22,95 Euro
Vergessenes Kleinod
Ist das schon ein Vorbote auf den finnischen Bücherherbst, da sich das nördliche Land in diesem Jahr als Gast auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert? Der Osburg Verlag bewies jedenfalls ein glückliches Händchen mit der Neuübersetzung des bereits 1971 auf schwedisch erschienenen, kleinen Romans „Leo Nilheims Geschichte“ von Leo Agren. Der Autor entstammt der schwedischen Minderheit in Finnland und verstarb bereits 1984 mit gerade mal 56 Jahren. Er wurde bereits zu Lebzeiten vergessen, obwohl sein eigenes, aufregendes Leben genug Stoff für einen Roman gäbe. Er war ein Opfer seiner Heimatlosigkeit und der Psychopharmaka, mit denen er seine Depressionen bekämpfte. Zu Zeiten des Vietnamkrieges kam dieses Buch als Antikriegsroman von einer völlig unerwarteten Seite. Der Protagonist Leo Nilheim erzählt seine bewegende Lebensgeschichte im Roman, wie er im zweiten finnisch-sowjetischen Krieg als junger russischer Soldat in Kriegsgefangenschaft gerät und dort bei Bauern den verstorbenen Sohn ersetzt. Agren schreibt so dicht und doch gleichzeitig ergreifend diese tragikomische Lebensgeschichte, dass das Buch zu einen kleinen Stück Weltliteratur wurde. Doch lesen sie selbst diese kleine Kostprobe des Romans: „Ich erwachte sehr früh. Es war noch immer ganz still im Haus. Ein weißer Morgennebel schwebte draußen auf dem Feld. Die Uhr in der Ecke tickte weiter vor sich hin. Durch die unbequeme Schlafhaltung taten mir alle Knochen weh. Ich streckte mich und trat ans Fenster. Eine Spinne hing vor der Scheibe und schaukelte leicht im Luftzug. Du bist Leo, sagte ich zu mir selbst. Du bist Leo Danowitsch Nilheim. Du heißt Nilheim. Das ist am sichersten für dich, und die Weltpolitik ist im Übrigen nicht deine Sache. Du musst an dein eigenes Leben denken, das reicht für dich. Aber genauso denken doch alle. Und deshalb läuft alles so, wie es läuft. Weil alle nur an sich selbst denken. Jedenfalls heiße ich Leo Nilheim, bin bald zweiundzwanzig Jahre alt und will leben. … Ich stand lange da an diesem Sommermorgen, sah, wie die Sonne immer höher stieg, wie der Nebel auf den Wiesen verblasste.“
Thomas Mahr
Leo Agren
„Leo Nilsheim Geschichte“
160 Seiten
Roman
Osburg Verlag
17,99 Euro
Fluchtpunkt Sommerfrische
Da soll nicht noch einmal einer sagen, wir unabhängigen Buchhändler hätten keine Macht. Die Begeisterung der Kollegen hat sich übertragen auf die Leser, längst bevor die Medien auf dieses literarische Kleinod „Ostende“ von Volker Weidermann aufmerksam wurden. Das erstaunt umso mehr, als dieser schmale Band alles andere als dem Zeitgeist oder irgendwelcher literarischer Moden entspricht. Der Erzähler reist mit dem Leser nicht nur an jenes belgische Seebad, er unternimmt auch eine Zeitreise zurück in das Jahr 1936, als Stefan Zweig mit seiner Geliebten Lotte einen letzten Sommer zu feiern scheint. Die Freunde der guten Tage sind alle versammelt, so dass sich die Geschichte wie das Who's Who der deutschen Exilliteratur lesen lässt. Alle sind sie geflohen aus dem Land der Bücherverbrennung, sie spüren wie Europa auf einen neuen Krieg zusteuert. Da ist der schon vom Alkohol gezeichnete Joseph Roth, der noch einmal eine Liebe erleben darf mit der viel jüngeren Irmgard Keun, der rasende Reporter Egon Erwin Kisch, Ernst Toller, Arthur Köstler und Hermann Kesten, alle teilen sie den Verlust der Heimat und mehr noch -sie haben ihre Leserschaft verloren. Weidermann gelingt es mit seinem Buch wirklich ein belletristisches Meisterstück Literaturgeschichte so zu erzählen, dass man begeistert zum Bücherschrank greift und die Schachnovelle und den Radetzkymarsch aus dem Regal zieht.
Thomas Mahr
Volker Weidermann
„Ostende“
1936, Sommer einer Freundschaft
160 Seiten
Kiepenheuer & Witsch Verlag
17,99 Euro
Tür in die Vergangenheit
In einem heruntergekommenen Hotel an der niederländischen Küste treffen sich Ferdy Aronius, seine Mutter Alice und ihr Ex-Geliebter Mees Stork. Hier begehen die drei übriggebliebenen Kolonialisten den Jahrestag der Bombardierung Hiroshimas und feiern ihre Befreiung aus der japanischen Gefangenschaft. Gemeinsam schwelgen sie in Erinnerungen an „ihr Batavia“: die rauschenden Feste, Alice‘ heimliche Treffen mit Mees Stork, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Und auch Ferdy erinnert sich mit Wehmut an seine behütete Kindheit in der Kolonie. Doch nicht nur draußen tobt in dieser Nacht ein Sturm, auch im Hotel rütteln vermeintlich weggesperrte Ereignisse an den verklärten Erinnerungen der Protagonisten. Eric Schneider, selbst im indonesischen Batavia geboren, erzählt in diesem Kammerspiel auf berührende Weise von den Erinnerungen einer Familie an ein tropisches Paradies – doch gleichzeitig von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und seinen Auswirkungen aus einer für uns, als deutsche Leser, unbekannten Perspektive.
Anna Kalmbach
Eric Schneider
„Zurück nach Java“
Roman
110 Seiten
Insel Verlag
16,95 Euro