Sachbücher

Lustig und listig
Alte Röhrenbildschirme finden sich fast nur noch im Sperrmüll, das allabendliche Fernsehprogramm, das Jahrzehnte lang hintereinander genossen wird, ist zum Auslaufmodell geworden. Allerhöchste Zeit, gemeinsam mit Jochen Schmidt fernzusehen. Seine meist humorvollen Kolumnen stellen eine außergewöhnliche Kulturgeschichte unserer Fernsehrepublik dar. Die kleinen Fundstücke treiben ganz schön Schabernack mit den eigenen Fernsehgewohnheiten, wenn man bei „Bares für Rares“ einfach nicht umschalten kann.
Wie werden wir leben ohne den Tatort, die Samstagabend-Quizshow und den täglichen Nachrichten, wenn die Sendezeit nicht mehr vorgeschrieben ist? Lesen sie Jochen Schmidt, der Schriftsteller hat ein kluges Buch geschrieben und ein witziges Porträt unserer Gesellschaft.
Thomas Mahr

Jochen Schmidt
„Zu Hause an den Bildschirmen“

Schmidt sieht fern
287 Seiten
Beck Verlag
24,- Euro<

Die Karriere eines Feindbilds
Der Begriff des „Antimuslimischen Rassismus“ findet seinen Weg in die Medien und nach und nach wissen immer mehr Menschen damit etwas anzufangen. Dennoch: Meist wird die Tatsache, dass in unserer Gesellschaft das „Feindbild Islam“ existiert, abgetan und sogar mit dem Wunsch „eine Extrawurst“ erhalten zu wollen versehen. Der Ruf nach einer Leitkultur, ausgeschmückte Horrorgeschichten von vermeintlich übergriffigen südländischen Männern und die Diskriminierung Kopftuch tragender Frauen sprechen Bände. Der Politikwissenschaftler und Lyriker Ozan Zakariya Keskinkılıç weiß dazu aus seinen persönlichen Erfahrungen, aber vor allem aufgrund seines Arbeits- und Forschungsfeldes, einiges zu berichten. In seinem Buch geht er nicht nur auf aktuellen Alltagsrassismus ein, sondert zeichnen einen historischen Weg, der seinen Ursprung in der Kolonialzeit hat und bis heute wirkt. Er entkräftet dabei Parolen Besorgter Bürger*innen mit fundierten Argumenten und Fakten; erörtert, ob die deutsche Gesellschaft wirklich so fortschrittlich, queerfreundlich und feministisch ist, wie sie vorgibt und nimmt die Lesenden mit auf einen Exkurs in eine muslimische Welt mit unterschiedlichen Facetten. Dabei darf auch die Lyrik, die man hier in ihrer Schönheit auf vielen Seiten findet, nicht zu kurz kommen. Ein wunderbares, erhellendes und so wichtiges Buch.
Saskia Jürgens

Ozan Zakariya Keskinkılıç
„Muslimaniac“

300 Seiten
Verbrecher Verlag
20,- Euro<

Hörenswerte Orte weltweit
Sich in unserer lauten Welt auf die Spuren ungewöhnlicher Klänge zu begeben, ist ein Plädoyer zugleich für das HÖREN als auch für die Stille. Michaela Vieser und Isaac Yuen setzen sich mit Naturphänomenen, wie den flüsternden Dünen oder den summenden Felder des Altai-Gebirges, auseinander. Daneben besuchen sie die wohltemperierte Demutspfeife, schicken die Goldene Schallplatte ins All und setzen sich mit dem Klang der Manipulation oder dem modernen Einsatz von LRADs (Long Range Acoustic Devices) auseinander. Die fein ausgewählten „Klang“-Stücke werden vom Knesebeck Verlag achtsam in Szene gesetzt. Achten Sie beim nächsten Staubwischen doch darauf, welche Muster die Musik im abgesetzten Staub hinterlassen hat. Sich begeben sich damit auf den Spuren von Galileo Galilei und Robert Hooke (englischer Universalgelehrter, 1635-1702) oder der isländischen Klangkünstlerin Björk.
Christine Naderer

Michaela Vieser, Isaac Yuen
„Atlas der ungewöhnlichen Klänge“
Eine Reise zu den akustischen Wundern unserer Erde
192 Seiten
Knesebeck Verlag
22,- Euro<

Vom Wiedergewinnen der Natur
Solange solche Bücher noch auf dem Buchmarkt erscheinen, Autoren wie der englische Schriftsteller Rob Cowen uns mit seinen Naturbetrachtungen verzaubert, können wir nach hoffen, auf Zukunft, ist mir nicht mehr so bange um die Menschheit. Cowen erzählt auf seinen Streifzügen durch Feldraine, Wälder und auf alten Bahntrassen von seiner Umgebung, wo sich Fuchs und Hase Gute-Nacht-Sagen.
„Aller Land“ zeigt mit aller Poesie, wie schön Natur direkt vor unserer Haustür sein kann, wenn man nur die Augen dafür öffnet.
Thomas Mahr

Rob Cowen
„Aller Land“

303 Seiten
Matthes & Seitz Verlag
26,-- Euro <

Wenn Frauen Geschichte schreiben
Es ist nicht so, dass in den erhaltenen Dokumenten aus dem Mittelalter keine einflussreichen Frauen vorhanden sind; vielmehr wurden diese zumindest in den letzten 300 Jahren von, meist männlichen, Forschern ignoriert und als nicht erwähnenswert befunden. Mehr und mehr weibliche Forscherinnen und ein enormer Fortschritt der Technologie erlauben diese Praxis nicht länger. Janina Ramirez hat Entdeckungen und Geschichten über die unterschiedlichsten wirkmächtigen Frauen des Mittelalters in ihrem Buch zusammengetragen, ordnet diese in einen historischen Kontext und deren Lebenswelt ein und erlaubt dazu zahlreiche Einblicke in die Methoden der Archäologie. Ein spannendes Buch, das den Lesenden immer wieder verdeutlicht: Geschichte hängt vor allem davon ab von wem sie wann erzählt wird.
Saskia Jürgens

Janina Ramirez
„Femina“

522 Seiten
Aufbau Verlag
28,- Euro

Stimmen aus den Regimen
Essays, Tagebucheinträge, Interviews, Reden – in dieser Flugschrift sammeln sich kämpferische, kritische, aber auch verängstigte und entsetzte Stimmen von russischen und belarussischen Menschen, die sich zum russischen Angriffskrieg äußern: Journalist*innen, Künstler*innen und Intellektuelle, die über die Regime Putin und Lukaschenko sprechen, auf Politik, Geschichte und Gesellschaft eingehen und von ihrer Lebenssituation berichten. Unter anderem sind das sehr persönliche Texte; Worte im Exil geschrieben oder voller Existenzangst. Eine Mutter, die ihren Sohn im wehrpflichtigen Alter außer Landes schleust oder aber ein Gefangener, dem wegen „Verbreitung von Fake-News“ der Prozess gemacht wird. Auf den Seiten findet man auch einen Straus an hoffnungsvollen Zukunftsvisionen. Die Essays sind stark, informativ und aufrüttelnd. Ich finde diese Menschen müssen gehört und gelesen werden. Ich setze Hoffnung in sie, die Menschen in ihrem Umfeld zu bestärken und gegen die freiheitsberaubende Diktatur aufbringen zu können. Und noch ein Grund gibt es, diese Flugschrift zu lesen: Hier schreiben Menschen, die erlebt haben, von was sie berichten. Es ist nicht nur ein Blick von außen auf Russland und Belarus.
Saskia Jürgens

Anne und Claire BerestHrsg. Dekoder
„Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

224 Seiten
Edition FotoTAPETA
15,- Euro

Spaziergang nach Italien
Der Journalist Willi Winkler arbeitete unter anderem für die „Zeit“ und den „Spiegel“; seit vielen Jahren ist er regelmäßiger Autor für die „Süddeutsche Zeitung“. Eines Tages meldet sich in ihm die Sehnsucht nach Italien: eine besondere Reise nach Italien soll es werden. Wie Goethe in der Postkutsche zu reisen ist heute nicht mehr möglich; fahren kann jeder Depp, und sei es mit dem Motorrad oder Fahrrad. Also geht Winkler zu Fuß. Sein Startpunkt ist dabei Wittenberg, denn schließlich ist Luther im Herbst 1510 von dort aus nach Rom aufgebrochen. Winkler schreibt so direkt und so nah an den Eindrücken einer Fernwanderung wie vor ihm noch keine andere Autorin oder ein anderer Schriftsteller. Es sind nicht die großen, überwältigenden Eindrücke, die eine lange Wanderung so besonders werden lassen. Es sind die vielen Beobachtungen, Begegnungen, kurzen Gespräche; die Gedanken, die einem während des Wanderns durch den Kopf gehen, und die konkrete Erfahrung der körperlichen Möglichkeiten, aber auch Grenzen, die eine solch lange Unternehmung zu Fuß zu einem unvergesslichen Erlebnis machen (der Autor der Rezension spricht aus eigener Erfahrung). Man kann sich noch Jahre später an jeden Abschnitt, an spannende Begegnungen und intensive Eindrücke erinnern. Noch zusätzlich angereichert wird das Wanderjournal durch viele literarische Einsprengsel zum Weg nach Italien und den Orten, die Winkler unterwegs durchquert. Für Menschen in und um Ulm und Langenau kommt noch dazu, dass Winkler auch ausführlich über die Durchquerung der näheren Umgebung schreibt. So kommt er von Nördlingen via Neresheim und Giengen weiter durch das Lonetal nach Nerenstetten, um über Oberelchingen und Ulm den Weg nach Oberdischingen fortzusetzen. Dabei kommt es auch zu einem herrlichen Missverständnis: In Giengen fragen zwei Männer Winkler, wo er bei diesem Regen hinwolle. Als dieser antwortet, er sei nach Lindau unterwegs, wird er verbessert: „Ah, nach Lindenau“. Eine so weite Wanderung wie nach Lindau oder gar nach Rom ist für die meisten außerhalb des Vorstellungsvermögens. Der Abschnitt zwischen Mailand und La Verna in der Toskana bleibt im Buch (noch) unerwandert; auch das gehört zu einer Fernwanderung, dass körperliche Gründe eine Vollendung in einem Rutsch nicht erlauben.
Dieses Buch macht Lust auf mehr; man möchte sich schon baldmöglichst selbst auf den Weg machen. Ziehen sie also in Gedanken ihre Wanderstiefel an und kommen sie mit – auf nach Italien!
Martin Schick

Willi Winkler
„Herbstlicht“

Rowohlt Berlin Verlag 2022
254 Seiten
23,- Euro

Ein kühnes Leben
Bei der Recherche über das Leben ihrer Großmutter haben die beiden Enkeltöchter Berest eine der interessantesten Frauen des 20. Jahrhunderts entdeckt. Je mehr sie sich auf die Spuren von Gabriële Buffet-Picabia machten, um so erstaunter waren sie, welch abenteuerliches Leben sich da vor ihnen auftat. Bereits mit 17 Jahren wollte sie Komponistin werden. Sie war 1898 die einzige Frau in der Pariser Kompositionsklasse. Als ihre Eltern es für angemessen hielten, dass eine junge Frau zu heiraten habe, floh sie nach Berlin und spielte in einer Wirtshauskapelle.
1909 heirate sie dann doch. Mit dem Künstler Francis Picabia an ihrer Seite entdeckte sie ihr Talent für die Malerei. Das Künstlerehepaar reiste nach New York und sorgte dort für Furore. Die Reisen wurden gebremst durch den Ersten Weltkrieg, in dem sie als Rotkreuzhelferin im Einsatz war. 1930 geht die Ehe auseinander, nicht aber das aufregende Leben der Künstlerin. Während des Zweiten Weltkriegs war sie im Widerstand, Teil der Pariser Résistance. Nach dem Krieg blieb sie weiter engagiert bis ins hohe Alter. 1985 stirbt sie mit 104 Jahren in Paris.
Thomas Mahr

Anne und Claire Berest
„Ein Leben für die Avantgarde“

Die Geschichte von Gabriële Buffet Picabia
304 Seiten
Aufbau Verlag
22,- Euro

Für ein positives Verhältnis zur Weiblichkeit
Die weibliche Sexualität ist oft heute noch geprägt von Schuld, Scham und Unwissen. Nicht nur, dass es unzählige Tabus gibt über die Frau nicht spricht (und Mann erst recht nicht). Auch heute werden in vielen Biologie(Schul!)büchern weibliche Geschlechtsorgane nur rudimentär oder falsch dargestellt. Maria Hesses wunderschön und zart illustriertes Buch leistet sicher einen Beitrag dem entgegenzu-wirken. Hier liest man von ihren eigenen Erfahrungen und Erkundungen und begegnet weiblichen Vorbildern, die sich den Konventionen ihrer Zeit widersetzten und ihre Sinnlichkeit entdeckten. Mit dabei sind zum Beispiel Sappho, Colette und Simone de Beauvoir. Ein tolles und wichtiges Buch um den Bezug zum eigenen Körper zu stärken. In diesem Sinne: Viva la Vulva!
Saskia Jürgens

Maria Hesse
„Lust“

160 Seiten
Heyne Verlag
24,- Euro

Eine Kulturgeschichte der Quallen
Quallen üben auf den Menschen eine besondere Faszination aus: Dargestellt als elegante, transparente, in allen Farben schimmernden Wesen, die märchenhaft durch das Wasser schweben. Oder aber als die hochgiftigen und gefährlichen Jäger und Killer. Samuel Hamen präsentiert uns in seinem Band eine kleine Sammlung an Darstellungen und Interpretationen und geht darüber hinaus und hinein in die Erforschung und Biologie. Kurzweilige Einblicke in die Entwicklungsphasen der Qualle, Arten und Lösungsansätze eines zentralen Problems: Die Konservierung von Quallen, zum Beispiel für die Wissenschaft.
Saskia Jürgens

Samuel Hamen
„Quallen“

143 Seiten
Matthes & Seitz Verlag
20,- Euro

Ein Kaleidoskop an Fotografien
„Manchmal schwimmen Fotos, die einem begegnen, direkt aus den Träumen heraus“ – steht auf der Rückseite von Katja Petrowskajas Essay-Sammlung „Das Foto schaute mich an“. Und ja, die Fotos, welche den Anstoß der Essays darstellen, wirken zum Teil wie aus einer anderen Welt, manchmal verträumt. Oft fällt es einem schwer, den Blick von ihnen abzuwenden, denn sie ziehen in ihren Bann. Petrowskaja stammt ursprünglich aus Kiew und lebt schon seit einigen Jahren in Deutschland. Als 2015 die Krim von Russland annektiert wurde, beginnt sie zu Fotos, die ihr auf unterschiedlichsten Wegen zukommen, zu schreiben, um darin Halt zu finden. Die Texte beschreiben häufig Randerscheinungen zu Ereignissen aus dem politischen und gesellschaftlichen Zeitgeschehen, die Petrowskaja verknüpft mit Assoziationen und ihrer eigenen Biografie. Aber auch Alltagssituationen finden Platz in diesen Texten, aus welchen der liebevolle Blick der Autorin auf Menschen heraussticht.
Saskia Jürgens

Katja Petrowskaja
„Das Foto schaute mich an“

256 Seiten
Suhrkamp Verlag
25,- Euro

Mann – oh – Mann!
Tobias Haberl, bekannt unter anderem als regelmäßiger Autor von Texten im Magazin der Süddeutschen Zeitung, hat sich mit dem Thema „Mann-Sein“ und Männlichkeit in seinem neuen Buch „Der gekränkte Mann“ auseinandergesetzt. Er gibt zu, sich zur Bedeutung von Männlichkeit, auch zu den damit verbundenen Privilegien, fünfunddreißig Jahre seines Lebens keine Gedanken gemacht zu haben. Doch dann hatte er zwei Erlebnisse, bei denen er über sich selbst und sein Verhalten erschrak, und begann, sich intensiv mit dem „Mann-Sein“ zu beschäftigen. Die Männlichkeit in der Werbung seiner Kindheit und Jugend (Haberl ist 1975 geboren) stand für Freiheit, Abenteuer und Macht; Frauen standen für Saubermachen und Körperpflege. Einige Männer aus Geschichte und Gegenwart bezeichnet er als gutes Argument gegen sein Buch – sie sind tatsächlich „ziemlich scheiße“. Doch die Zeiten männlicher Monokultur sind nun weitgehend vorbei; die Vorherrschaft der „weißen alten Männer“ ist zu Ende. Zeit, sich damit auseinanderzusetzen, ob es so etwas sie „Männlich-Sein“ noch braucht, und wenn ja, wie dies aussehen kann. Denn Männlichkeit wird heute oftmals pauschal als schlecht bewertet und negativ eingeschätztes Verhalten via Internet und Shitstorm abgestraft, es gibt eine dramatische Diskursverflachung. Damit setzt sich Haberl intensiv auseinander, manchmal auch überspitzt und ironisch, aber letztlich bringt er seine Ansichten immer wieder klar auf den Punkt: Es geht ihm darum, „wie ich mich als Mann zur Gegenwart verhalten will, welche Entwicklungen ich begrüße und welche ich eher kritisch sehe oder ablehne“. Das Buch ist auf jeden Fall sehr lesenswert und kann viele gute Denkanstöße liefern; auch dann, wenn man einmal nicht den Standpunkt des Autors teilen kann. Eine Aufforderung, „Mann-Sein“ neu zu überdenken – interessant und spannend nicht nur für Männer!
Martin Schick

Tobias Haberl
„Der gekränkte Mann“

243 Seiten
Piper-Verlag München 2022
22,- Euro

Mit der Umgebung verflochten
Reziprozität (Gegen- und Wechselseitigkeit – Duden) und Dankbarkeit – diese beiden Worte sind zentral in Frau Kimmerers Werk. In ihren Erzählungen nimmt sie uns mit in die Welt der nordamerikanischen Natur ihrer Ahnen, ihrer eigenen Kindheit und der Gegenwart. Wir sind dabei, wenn sie mit ihren Studenten Workshops im Wald durchführt, um die Reziprozität der Natur unmittelbar zu erfahren. Alles ist miteinander verflochten, wie im Buch: die Geschichte und das Naturverständnis der indigenen Völker Nordamerikas, Kimmerers eigene Vergangenheit und Familiengeschichte sowie der moderne naturwissenschaftliche Blick auf Flora und Fauna. Die Autorin gewährt uns Einblicke in ihr Denken, Fühlen und ihren reichen Wissensschatz über die Natur als Angehörige des indigenen Volkes der Potawatomi, als Mutter und nicht zuletzt als Wissenschaftlerin und Professorin, die die Dankbarkeit für die Gaben der Natur täglich lebt.
Lassen Sie sich ein auf die Mystik und Weisheiten der indigene Völker sowie auf die naturwissenschaftlichen Erläuterungen der Pflanzenkunde – es heißt neue Welten zu entdecken, alte zu bewahren. Dieses Buch ist ein Geschenk.
Christine Naderer

Robin Wall Kimmerer
„Geflochtenes Süßgras“

461 Seiten
Aufbau Verlag 2021
26,- Euro

Reisen als Weg, um Glücksmomente zu erleben
Der Journalist Juan Moreno schrieb unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“ und den „Spiegel“. Daneben hat er immer wieder hervorragende Bücher veröffentlicht wie „Von mir aus“, einen Sammelband seiner großartigen Kolumnen, oder das Buch „Teufelsköche“. Bekannt wurde er durch „Tausend Zeilen Lüge“, in dem es ihm gelang, den Betrugsfall des Spiegel-Reporters Relotius aufzudecken. Nun veröffentlicht er sein neuestes Werk, das auf den in vielen Jahren journalistischer Tätigkeit unternommenen Reisen basiert. Moreno unterscheidet klar zwischen Urlaub (man fährt weg, will sich erholen und eine möglichst überraschungsfreie Zeit verbringen), und dem Reisen. Was zeichnet eine Reise aus? Man nimmt sich Zeit für das Erleben und die Begegnungen mit Menschen. Sich Zeit zu nehmen, schafft Nähe, Nähe wiederum führt zu Einsichten, die man sonst nicht hätte. So sagt Moreno: „Von einem Urlaub kann ich enttäuscht sein, von einer Reise nicht“. Begleiten sie als Leser Moreno auf seinen Reisen, mal zu abgelegenen, exotischen und auch gefährlichen Reisezielen wie etwa dem Urwald zwischen Panama und Kolumbien; ein anderes Mal zu „klassischen“ Zielen wie dem spanischen Jakobsweg, den sie aber aus völlig neuen Perspektiven kennenlernen werden; oder aber zu außergewöhnlichen Beobachtungen bei besonderen Menschen wie etwa zu einem Stierkämpfer, der mit viel Glück den Angriff eines Stiers überlebt hat und nun, nach 2 Jahren Pause, wieder voller Angst in die Arena zurückkehren will.
Moreno hat einen eigenen, unverwechselbaren Sprach- und Schreibstil. Er lässt uns teilhaben an Beobachtungen, An- und Einsichten. Daneben verfügt er gleichzeitig über einen unglaublichen Humor. So werden sie beispielsweise lernen, warum Hongkong-Chinesen sich so verhalten wie Juan Morenos spanische Großmutter kurz vor Weihnachten.
Warnung: Sollten sie einmal angefangen haben, das Buch zu lesen: Sie werden süchtig nach diesen außergewöhnlichen, einzigartigen Reiseberichten!
Martin Schick

Juan Moreno
„Glück ist kein Ort“

304 Seiten
Rowohlt-Verlag
22,- Euro

Kälte und Hunger
Der Guggolz Verlag ist dafür bekannt, dass der Verleger wie ein „Trüffelschwein“ verborgene und vergessene Schätze der Weltliteratur für die Leser ausgräbt, um diese dann edel in bibliophiler Aufmachung fürs Sammlerherz herauszugeben, fast immer neu übersetzt.
Nun hat der Verlag ein schwedisches Kleinod entdeckt. Stig Dagerman, Schriftsteller und Journalist, die tragische Figur der schwedischen Literatur, wurde von seiner Zeitung 1946 nach Deutschland geschickt, um mit seinen Reportagen ein Bild der Lage Deutschlands zu geben. Er beschreibt mit Empathie und Eindringlichkeit das so zerstörte Land. Sein Blick ist geprägt von seiner eigenen Trauer angesichts der Trümmerlandschaft und der traumatisierten Menschen. Das Buch ist so mitreißend, ja fesselnd erzählt; dabei vermeidet er jeglichen Voyeurismus. Die Reportagen werden getragen von der Erschütterung angesichts der Zerstörung eines Landes, dessen Schönheit er in Erinnerung hat.
Thomas Mahr

Stig Dagerman
„Deutscher Herbst“

Reportagen
190 Seiten
Guggolz Verlag
22,- Euro

Faszination: Dabba-Prinzip
In Mumbai finden täglich ca. 200.000 Lunchboxen (Dabbas) mit Hilfe sogenannter Dabbawalas ihren Weg von Zuhause, wo das Mahl frisch von der Familie zubereitet wird, in die Büros im pulsierenden Herzen der Megacity – die Fehlerquote ist annähernd Null. Grund dafür ist ein ausgeklügeltes, schier undurchschaubares Logistiksystem, das sogar Universitäten weltweit in Staunen versetzt. In dem Kochbuch „Karma Food Currys“ werden nicht nur vielseitige, indische Rezepte beschrieben, die wie für den Transport in den Dabbas geschaffen sind, sondern auch Einblicke in die indische Kultur gewährt und das Dabba-Prinzip erklärt. Hundert Farbfotos lassen die Lesenden eintauchen in eine bunte, exotische Welt. Ein Buch zum Betreiben von „Armchair-Travelling“, zum Abtauchen, aber auch zum Nachkochen süßer und herzhafter Köstlichkeiten fürs Büro und Zuhause.
Saskia Jürgens

Adi und Simone Raihmann
„Karma Food Currys“

256 Seiten
Brandstätter
28,- Euro

Die Elbe – von der Quelle bis zur Mündung
Wahrlich eine günstige Rarität - ein reichbebildertes Buch des Landschaftshistorikers Hansjörg Küster über die Elbe, welches diesen 1165 Kilometer langen Fluss in allen Facetten beleuchtet. Natürlich stehen die geografischen und geologischen Beschreibungen ganz vorn. Reizvoll sind jedoch Küsters Ausflüge an die Nebenflüsse und seine umfangreichen historischen Kenntnisse.
Jahrhundertelang war der Fluss zusammen mit der Moldau, die bei Melnik in die Elbe fließt, die Transportverbindung zwischen Prag und Hamburg. Unterbrochen wurde diese durch den Eisernen Vorhang und dies war auch die Zeit als die Elbe sehr unter der chemischen Industrie zu leiden hatte. Rasch erholte sich der Fluss aber nach der Wende was die Wasserqualität betraf, nicht aber in der Uferbebauung. Die zeigte sich in der Flutkatastrophe von 2002, weil die natürlichen Überflutungsflächen überbaut wurden.
Nach der Lektüre von Küsters Buch gibt es nur eines: Wanderschuhe eingepackt und auf zur Quelle der Elbe im Riesengebirge.
Thomas Mahr

Hansjörg Küster
„Die Elbe“

Landschaft und Geschichte
336 Seiten
Beck Verlag
12,95 Euro

Was auf uns zukommt, wenn das Eis schmilzt
Der Geologe Peter D. Ward hat sein Buch „Die große Flut“ schon vor 10 Jahren geschrieben. Jetzt ist es aktualisiert wieder neu erschienen. Es hat nichts von seiner Brisanz verloren und zeigt in aller Deutlichkeit die Konsequenzen der Klimakrise auf. Naturereignisse, die er damals schon ankündigte, sind längst wahr geworden. Wir sehen nun die Wälder brennen, die Dürren, und die Flutkatastrophen – alles Auswirkungen des Klimawandels. Das Meer wird zur Bedrohung, aber nicht nur für die Inseln der Südsee, sondern auch für europäische Hafenstädte wie Hamburg, London oder Rotterdam. Drastisch schildert Ward die Bedrohungen der Klimaerwärmung; auch davon, dass Meerwasser Ackerland unfruchtbar machen wird.
Man liest dieses Buch ohne anschließend Depressionen zu bekommen. Es ist fesselnd geschrieben und fordert uns auf, alles zu unternehmen, um die Erderwärmung zu stoppen. Und es liefert uns die Argumente, die wir für die ewig Gestrigen brauchen, die den Klimawandel immer noch leugnen.
Thomas Mahr

Peter D. Ward
Mitarbeit: Christoph Hirsch
„Die große Flut“

246 Seiten
2021-oekom Verlag
22,- Euro

Geopolitische Zusammenhänge und die Erkenntnis über die Fragilität von Frieden
Neue Handelswege, zu Land und Wasser sollen entstehen - Strecken und Knotenpunkte, die den Handel der ganzen Welt, vor allem aber in Asien und Afrika, vernetzen. Dabei verteilt China freigiebig enorme Kredite an asiatische und afrikanische Staaten für großangelegte Projekte wie Bahnstrecken und Häfen. Kredite, die möglicherweise nie zurückgezahlt werden können und betroffenen Staaten in Abhängigkeitsverhältnisse drängen. Jedoch ist China nicht die einzige Supermacht, die auf diese oder ähnliche Weise geopolitisch ihre Muskeln spielen lässt. Die Folge: Verstrickungen, Intrigen, Verträge und Abhängigkeiten, die global alle betreffen. Das Fazit des Autors: Nur wer die Zusammenhänge kennt, kann angemessene Entscheidungen treffen.
Saskia Jürgens

Peter Frankopan
„Die neuen Seidenstraßen“

352 Seiten
Rowohlt Verlag
22,- Euro

Aug in Aug mit dem Bären
Nastassja Martin ist Anthropologin aus Leidenschaft und verbringt die meiste Zeit ihres Lebens bei indigenen Völkern. In Kamtschatka begegnet sie auf einem Streifzug einem Bären, der sie angreift und lebensgefährlich verletzt.
Sie erzählt die Geschichte ihrer Rettung, ihre bizarren Erlebnisse in russischen Krankenhäusern, die aber noch unglaublicher werden in ihrer Heimat Frankreich. Die eigentliche Geschichte dreht sich aber um die Begegnung mit dem Bären und die Folgen. Es geht um Körper und Seele. Es macht keinen Sinn nur wieder so schnell wie möglich wieder gesund zu werden, sondern der Bär ist nun Teil ihres Lebens, so dass sie Monate später wieder in Kamtschatka ist, wo sie nicht unbedingt willkommen ist, denn dort gilt sie nun als halb Mensch, halb Bär und Unglück bringend. Das Alles ist wie ein Protokoll geschrieben, entfaltet aber eine emotionale und spirituelle Wucht ohnegleichen.
Klaus Schönfeld

Nastassja Martin
„An das Wilde glauben“

139 Seiten
Matthes & Seitz Verlag
18,- Euro

Suchen und Warten in Tibet
Als der Naturfotograf Vincent Munier ihn fragt, ob er mit nach Tibet kommt, um die vom Aussterben bedrohten letzten Exemplare des Schneeleoparden zu fotografieren, zögert Sylvain Tesson keine Sekunde. Sein Bericht über diese Reise ist eine faszinierende mystische Erfahrung. Mit Lakonie schildert er die Beschwernisse und Widrigkeiten. Mit Hingabe und Liebe erzählt er von der majestätischen Landschaft und den faszinierenden Tieren. Allein schon für die Begegnungen mit den Yaks findet er wundervolle Worte. Ein wirklich großes Buch über Stille, Einfachheit, Leidenschaft und Liebe für die Natur.
Klaus Schönfeld

Sylvain Tesson
„Der Schneeleopard“

190 Seiten
Rowohlt Verlag
20,- Euro

Über Natur schreibt man nicht aus Routine, sondern aus Liebe,
denn man gibt durchaus etwas von seiner Seele preis. Das schreibt Harry Martinson in einem der 45 Texte, die in diesem Buch gesammelt sind. Es geht nicht nur um Idylle und Beschaulichkeit, sondern auch Vergänglichkeit und Verwesung. Er findet wunderbare Bilder: Eine weiße schwedische Buschwindröschen Wiese erscheint wie eine Offenbarung, der Ligusterschwärmer sieht aus als hätte er immer was zu besorgen, im Abenddämmer, wenn die Farbeindrücke ausruhen dürfen. Wenn man sich aufmacht die Insektenwelt zu studieren, muss man sich auf vieles in einem selbst gefasst machen. Martinson sucht und findet das Große im Kleinen und das Kleine im Großen. Das ideale Buch für den Frühling im Garten.
Klaus Schönfeld

Harry Martinson
„Schwärmer und Schnaken“

220 Seiten
Guggolz Verlag
22,- Euro


Moderner Feminismus – ernst, stark und humorvoll
Im Deutschland des 21. Jahrhunderts ist zwar vieles besser, aber noch lange nicht gut. Es geht um Geschlechterrollen und Gleichberechtigung. Um Macht, Sexualität und das Recht am eigenen Körper. Macht man heute eine Umfrage mit dem Titel „Was würdest du tun, wenn es für 24 Stunden keine Männer gibt“, ist eine häufig genannte Antwort von Frauen „abends ohne Angst zu Fuß nach Hause gehen“. Das ist eines von vielen Beispielen, das zeigt: Feministische Themen sind auch heute nicht vom Tisch, sondern brandaktuell. Margarete Stokowski studierte Philosophie und Sozialwissenschaften und ist seit 2011 Kolumnistin bei Spiegel Online. Dabei legt sie mit scharfem Verstand und einer humorvollen, spitzen Zunge, die dennoch nicht den Ernst des Themas aus den Augen verliert, die Schwachstellen unserer - doch so fortschrittlichen - Gesellschaft frei. In „Untenrum frei“ beschreibt sie auf sehr persönliche Weise wie es ist, als Mädchen in Deutschland aufzuwachsen: Mädchenzeitschriften, lückenhafter Aufklärungsunterricht, Übergriffe, Tabus. Schnell wird deutlich, wenn sich in Sache Geschlechtergerechtigkeit etwas ändern soll, geht es um Details.
„Die letzten Tage des Patriarchats“ sammelt eine Auswahl ihrer Kolumnen – Lesestoff der wach und empört hält, motiviert Haltung zu zeigen und einen Überblick über aktuelle Debatten verschafft.
Saskia Jürgens

Margarete Stokowski
„Untenrum frei“

256 Seiten
Rowohlt Taschenbuch
12,- Euro

Margarete Stokowski
„Die letzten Tage des Patriarchats“

320 Seiten
Rowohlt Taschenbuch
12,- Euro

Schlüssel zum vielfältigen Einwanderungsland
Deutschland – Einwanderungsland wider Willen. Bereits im 19. Jahrhundert war Deutschland Ziel von Wanderarbeiter*Innen und Migration. Zwangsarbeiter*Innen beider Weltkriege, ehemalige „Gastarbeiter*Innen“ aus verschiedenen Nationen sowie Schutzsuchende prägen das heutige Antlitz unserer bunten Gesellschaft. Dennoch sträubt man sich zum Teil heute noch Deutschland als Einwanderungsland anzuerkennen. Dabei entwickelte sich im Laufe der Historie ein „Rassistisches Wissen“, welches sich mit der Zeit veränderte und angepasst wurde. Die Historikerin Maria Alexopoulou nimmt die Lesenden mit auf eine Reise durch die Zeit – auf den Spuren von Einwanderung und Rassismus in Deutschland. Der Begriff des „Rassistischen Wissens“ spielt dabei eine zentrale Rolle. Es gilt dieses Wissen auszugraben, zu entlarven und zu benennen, um es aus unserer Gesellschaft ein für alle Mal zu verbannen.
Saskia Jürgens

Maria Alexopoulou
„Deutschland und die Migration“

281 Seiten
Reclam Verlag
24,- Euro

Es gibt nichts, was ich lieber tue, als den Leuten beim Reden zuzuhören
Dies schreibt Sophy Roberts in ihrem faszinierenden Buch. In den Jahren 2015 bis 2019 reist sie kreuz und quer durch Sibirien, vom Ural bis zum Pazifik auf der Suche nach scheinbar längst vergessenen Musikinstrumenten. Im 19. Jahrhundert ist das Klavier für russische Aristokraten und Großbürger das Symbol für die europäische Kultur und Errungenschaften, spätestens als im Jahr 1842 Franz Liszt in St. Petersburg vor 3.000 begeisterten Zuhörern spielte. Gouverneure, Revolutionäre, Intellektuelle, Strafgefangene; ob gesandt oder verbannt, sie alle verehrten die Musik und das Klavier.
Mit sehr viel Neugier und Zuneigung begegnet die Autorin den Menschen, die sie auf ihrer Reise trifft; so lauschen wir gebannt den Geschichten, die sie erfährt. Gleichzeitig ist das Buch auch ein großartiger Reiseführer durch die endlosen Weiten Sibiriens, bereichert durch die kleinen und großen Geschichten.
Klaus Schönfeld

Sophy Roberts
„Sibiriens vergessene Klaviere“

400 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
26,- Euro

Vom Leben im Ausnahmezustand
In ihrem neuen Buch erzählt die norwegische Bestsellerautorin, die mit „Die Geschichte der Bienen“ berühmt wurde, von jenen Tagen im März, als auch wir das Gefühl hatten, die Welt würde stillstehen. Es ist ihr bisher wohl persönlichstes Buch, sie beschreibt darin, wie sie mit ihrer Familie, also Mann und drei Söhnen, die Zeit des Lockdowns in Norwegen erlebt hat. Die Autorin, die normalerweise selbst bedeutende, dystopische Romane schreibt, hat plötzlich das Gefühl, sich selbst in solch einem zu befinden.
In ihrem äußerst fesselnden Buch hat Maja Lunde nun die verstörenden Anfangstage der Coronavirus-Pandemie verarbeitet, viele LeserInnen werden sich darin wiederfinden und verstanden fühlen.
Sandra Kohl-Blum

Maja Lunde
„Als die Welt stehen blieb“

224 Seiten
btb Verlag
16,- Euro

Rechtsradikale Mobilmachung im Internet
Während sich immer mehr extrem Rechte als harmlose Hipster darstellen, hat sich online ein Netzwerk geknüpft, das alles andere als gefahrlos ist. Wahlkampfpropaganda und Trollterror auf populären Social-Media-Seiten wie Facebook, Twitter und YouTube sind hier nur die Spitze eines Eisberges, der in deutlich dunkleren Ecken des Internets seinen Ursprung hat. Die Autoren schleusen sich ein, auf 4Chan und 8Chan, Gamergate und Reconquista Germanica, sie führen Interviews mit namenhaften Personen der rechten Szene, analysieren YouTube-Videos und tragen in diesem Buch ihre Ergebnisse Puzzleteil für Puzzleteil zusammen. Mit erschreckenden Erkenntnissen. Ein unverzichtbares Buch, um zu verstehen, wie extremistische Meinungsmache bei zukünftigen Wahlen eine Rolle spielen wird – und vielleicht ein Hilfsmittel, um dem angemessen entgegenzutreten.
Saskia Jürgens

Patrick Stegemann und Sören Musyal
„Die Rechte Mobilmachung“

290 Seiten
Plus herausnehmbare Grafik:
Vernetzung diverser Kanäle und Personen
Econ Verlag
17,99 Euro

Forschung zur Gerechtigkeit als Lebenswerk
Amartya Sen erhält dieses Jahr (2020) den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Im Zuge dessen geht der hier besprochene Titel in die zweite Auflage. Sen beschreibt seine Anhaltspunkte über Gerechtigkeit zu diskutieren und Wege zur Umsetzung einer gerechteren Welt zu formen. Er argumentiert, dass es unterschiedliche Ansätze gibt, gerechtes Handeln zu begründen und vergleicht seine Thesen mit verschiedenen Philosophen und Ökonomen von der Aufklärung bis heute. Am Ende steht für ihn fest: Eine völlig gerechte Welt ist eine unerreichbare Utopie. Diese erreichen zu wollen, verhindert die Verwirklichung einer gerechteren Welt. Sein Ansatz: Ungerechtigkeit aufspüren und beseitigen – Stück für Stück. In seinem Buch macht er seine Forschungsergebnisse mehrerer Jahrzehnte für die Öffentlichkeit zugänglich.
Saskia Jürgens

Amartya Sen
„Die Idee der Gerechtigkeit“

493 Seiten
dtv Verlag
14,90 Euro

Geschichte schreiben
Wer jetzt die Zeit hat, kann eintauchen in die umfangreichste Sozialgeschichte unseres kapitalistischen Systems. Der französische Wirtschaftswissenschaftler erklärt in seinem Buch, dass soziale Ungleichheit in einem System nur so lange gut geht, so lange ein gesellschaftlicher Konsens darüber herrscht. Seit dem Hyperkapitalismus nach dem Fall der Mauer wurde diese gesellschaftliche Übereinkunft aufgelöst – und zwar von den Reichen. Keine Angst vor den 1312 Seiten, sie sind lehrreicher als alles, was bisher über die soziale Sprengkraft der Gegenwart geschrieben wurde. Seite für Seite wird klar, in welchen Zustand sich unsere Welt hineinkatapultiert hat.
Thomas Mahr

Thomas Piketty
„Kapital und Ideologie“

1312 Seiten
Beck Verlag
39,95 Euro

Wahrscheinlich werden wir nie einen Alien treffen…
… aber eine Begegnung mit einer Krake kommt dem sehr nahe. Der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Kopffüßler war ein platter Wurm mit Augenflecken und ohne nennenswertes Bewusstsein. Ab dieser Verzweigung unseres Stammbaumes hat die Natur den Geist gleich zweimal erfunden. So gibt es über Kopffüßler unzählig Faszinierendes und Merkwürdiges zu berichten und noch viele ungelöste Rätsel. Peter Godfrey-Smith belässt es allerdings nicht dabei von seinen Taucherfahrungen zu erzählen. Der Philosoph verknüpft geistreich Beobachtungen mit unerwarteten Fragen zu unserer eigenen körperlichen Verfassung und Entwicklungsgeschichte, und sucht mit Biologen nach Antworten. Wie wäre es denn beispielsweise, wenn sich all unsere Gehirnaktivitäten auf der Haut in Farben und Mustern abzeichnen würden? Und welche Bedeutung hat (dann) Sprache?
„Ein hinreißendes Buch!“ The Guardian
Saskia Jürgens

Peter Godfrey-Smith
„Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins“

304 Seiten
Matthes & Seitz Verlag
28,- Euro

Farben, Farben, Farben
Farben bestimmen unsere Wahrnehmung - von ihnen hängt ab, wie wir die Welt sehen. Die Journalistin Kassia St Clair versammelt in diesem wunderschön gestalteten Buch die Entstehung und Wirkung dreiundsiebzig ausgewählter Farben, Schattierungen und Farbnuancen. Sie erzählt uns die geheimnisvollen und vielfältigen Geschichten, die sich hinter den Farben verbergen. Eine Fundgrube voller Anekdoten zu Mode, Geschichte, Malerei, Architektur und Kunstgeschichte, ein kunterbuntes Lexikon und eine faszinierende Kulturgeschichte.
Kassia St Clair schreibt mit großer Liebe zum Detail und wirklich ansteckender Begeisterung.
„Ein hinreißendes Buch!“ The Guardian
Cornelia Beyerle

Kassia St Clair
„Die Welt der Farben“

352 Seiten
Hoffmann und Campe Verlag
18,- Euro

Meisterhaft
19. Mai 1845, Greenhithe, England. Sir John Franklin macht sich mit 134 Männern und zwei Schiffen, der Terror und der Erebus, auf den Weg ins arktische Eis, um den letzten weißen Fleck der Nordwestpassage zu kartieren. Drei Jahre später verschwinden beide Schiffe. Ihr Schicksal und das ihrer Crews bleibt mehr als anderthalb Jahrhunderte lang ein Rätsel – bis 2014 vor der Nordküste Kanadas ein „Schatz“ gefunden wird. Es ist das Wrack der HMS Erebus.
Michael Palin – Monty-Python-Star, Weltenbummler und begnadeter Erzähler – entfaltet die ebenso glanzvolle wie tragische Geschichte der Erebus, die in einer Katastrophe endete.
Cornelia Beyerle

Michael Palin
„Erebus“

400 Seiten
Hoffmann und Campe Verlag
28,- Euro

„Vom Südpol aus kann man nur nach Norden gehen, egal wohin man sich dreht.“
2015 gründeten Studenten in Greifswald das Magazin „Katapult – Magazin für Kartografik und Sozialwissenschaft“. Die erste gedruckte Ausgabe erschien im März 2016 mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren. Heute hat das Heft bereits eine Auflage von 40.000 Exemplaren und wird nach wie vor vierteljährlich an 12.000 Abonnenten per Hand verschickt. Gelebte Begeisterung!
100 ihrer besten Karten haben die Katapult-Macher nun in diesem Buch verewigt, denn manchmal müssen wir unsere Perspektive ändern, um die Welt besser zu verstehen. Die Realität ist nicht schwarz-weiß, sie ist kompliziert, überraschend, staunenswert, manchmal auch witzig, auf alle Fälle aber erstaunlich.
Cornelia Beyerle

Katapult
„Blau“

208 Seiten
Hoffmann und Campe Verlag
26,- Euro

Erlesen Sie Ihr blaues Wunder
Alles beginnt mit dem Licht und unserem Sehen. Blau ist besonders und kommt in der Natur seltener vor als andere Farben. Seit frühesten Zeiten suchten die Menschen nach einmaligen blauen Steinen und Farbstoffen, die Textilien, Porzellan und Gemälde verwandeln. Wie hängen all diese Dinge zusammen, die wir bewundern? Die Falter, die Früchte, die Mineralien, der Himmel, und das Meer?
Kai Kupferschmidt ist der Faszination für diese Farbe schon als Kind erlegen und sie begleitet ihn bis heute. Er hat sich auf eine Reise um die Welt gemacht, um die Rätsel und die Schönheit unseres Planeten zu erkunden und uns in seinem wunderschön gestalteten Buch zu erzählen, wie all diese Dinge zusammenhängen, die wir bewundern - brillant geschrieben und großartig recherchiert.
Cornelia Beyerle

Kai Kupferschmidt
„Blau“

238 Seiten
Hoffmann und Campe Verlag
26,- Euro

Es lebe die Unordnung im Garten
Steine oder ein Sandhaufen, die liegengeblieben sind, ein Laubhaufen, der im Herbst nicht mehr entsorgt wurde und totes Holz im Garten, all dies bedeutet Lebensraum für die Natur. In unserer leergeräumten Kulturlandschaft sind solch kleine Inseln ein Glücksfall für Insekten, aber auch für größere Tiere. Die Geo-Ökologin Sigrid Tinz zeigt in ihrem Buch wie durch weniger Ordnung im Garten mehr Natur möglich wird. Darüber hinaus geben ihre Tierporträts Einblicke, welchen Standort Insekten und auch Igel und Eidechsen brauchen. Ignorieren Sie den mitleidigen Blick des Nachbarn und verwandeln Sie Ihren Garten in ein ökologisches Paradies. Dass man natürlich nicht alles dem Zufall überlassen kann, unterstreicht die Autorin mit ihren Anleitungen. Perfekt wird Ihr Garten eben dann, wenn er nicht perfekt ist.
Thomas Mahr

Sigrid Tinz
„Haufenweise Lebensräume“

Ein Lob der Unordnung im Garten
192 Seiten
Pala-Verlag
19,90 Euro

Ein Vademekum utopischer Welten
Kein Ort, nirgends – und all die Phantasie das gedanklich zu füllen: Seit Menschengedenken gibt es faszinierende Utopien, und nicht zuletzt haben wir ja alle auch unseren ganz persönlichen Lebenstraum.
Einen Einblick in die Geschichten der Utopien der letzten 500 Jahre gewährt jetzt ein sehr fein gestalteter Bild- und Textband aus dem Bozener folio-Verlag.
Alberto Manguel – nicht zuletzt bekannt durch seine ausgezeichnete „Geschichte des Lesens“ – hat kurze Textvignetten verfasst, mit denen er uns an zwanzig Gedanken- und Realexperimenten teilhaben lässt und auf eine Reise mitnimmt, die bei Thomas Morus „Utopia“ beginnt und mit John Lennons und Yoko Onos „Nutopia“ (k)ein Ende findet.
Was aber den besonderen Reiz dieses wohlfeilen Buches ausmacht, das sind die Karten und Illustrationen der imaginären Geographien, welche der Leserschaft wahrhaft ins Auge fallen und neben dem qualifizierten Wort den Bildern großen Raum geben und eine besondere Lust aufs Schauen machen.
Christian Schulz

Alberto Manguel
„Sehnsucht Utopie“

Eine Reise durch fünf Jahrhunderte
104 Seiten
Folio Verlag
32,- Euro

Zwischen Anklage und Verzeihung
Wie denken und dachten unsere Vorfahren, Großeltern, Eltern, die um und nach 1920 Geborenen, was erinnerten sie im – zornigen oder milden – Rückblick auf ihr Leben und das ihrer Zeitgenossen?
Der deutsch-amerikanische Historiker Jarausch hat sich mit Hilfe von 80 Erinnerungstexten – u.a. von dem Zeithistoriker Joachim Fest, der Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger und der Ulmerin Renate Finckh -, die um 1990 erschienen sind, daran gemacht, den roten Faden, die Gemeinsamkeiten, die Widersprüche dieser Generation zusammenzutragen und zu resümieren. Herausgekommen ist eine eindrucksvolle Monographie über „Zerrissene Leben“, in der nicht zuletzt schon die Kindheiten in der Weimarer Republik, aber erst recht die krassen Ambivalenzen einer Jugend im Dritten Reich zu Wort kommen, mit denen die erwachsen Gewordenen in der Nachkriegszeit in Ost und West und andernorts zurechtkommen mussten.
Die selbstkritische Einsicht steht neben dem fatalen Rechtfertigungsversuch, die Verzeihung neben der Anklage, die klare Analyse neben den verständlichen Emotionen. Kurz ein Buch, das nicht nur die Lektüre lohnt, sondern zu einem lebendigen Gespräch mit deutscher Vergangenheit einlädt.
Christian Schulz

Konrad H. Jarausch
„Zerrissene Leben“

Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter
456 Seiten
WBG Theiss
29,95 Euro

Eine deutsch-französische Mentalitätsgeschichte
Nicht immer ist der Blick in den Keller ersprießlich, insbesondere dann nicht, wenn er zu Tage fördert, was familiär und erst recht in der Öffentlichkeit unter dem Teppich bleiben sollte. Bei der in Straßburg gebürtigen Geraldine Schwarz war es die Korrespondenz des Mannheimer Großvaters väterlicherseits, welche die Journalistin auf eine Fährte brachte und eine enorme literarische Schubkraft entfalten ließ. 1938 hatte dieser Großvater ein jüdisches Unternehmen arisiert, dessen ursprünglicher Besitzer nach Kriegsende Entschädigung einfordert – blamabel und doch so typisch, was folgt: Arroganz, Abstreiten, die Klage, selbst Opfer (gewesen) zu sein. Auch der Großvater mütterlicherseits hat seine Geschichte(n), diente er doch als Gendarm unter Vichy.
Aus diesem familiären Nukleus entwickelt sich eine deutsch-französische Mentalitätsgeschichte, die einmündet in ein europäisches Nachkriegs- und Gegenwartspanorama. Vehement plädiert die Autorin in ihrer Allroundperspektive für ein selbstbewusstes Europa, das aus den Fehlern der Vergangenheit lernt und Zukunft gestaltet.
Im Dezember 2018 erhält Géraldine Schwarz in Brüssel zu Recht den Europäischen Buchpreis.
Christian Schulz

Géraldine Schwarz
„Die Gedächtnislosen“

Erinnerungen einer Europäerin
380 Seiten
Secession Verlag für Literatur
28,- Euro

Wir rasenden, reisenden Europäer. Ein Portrait.
Während es 1950 nur 25,3 Millionen internationale Reisende gab, hat sich die Zahl in den letzten 63 Jahren verfünfzigfacht. Also höchste Zeit, sich eingehend mit dem Wesen des Tourismus zu beschäftigen!
Marco d’Eramo gelingt es, mit seiner aufmerksamen Besichtigung, die uns bereits bekannte ‚Welt im Selfie‘ aufzubrechen und auch Vergangenheit und Zukunft der rasenden und reisenden Europäer zu beleuchten. Jeder will ein Reisender sein, keiner hingegen Tourist. Wie alt dieses Phänomen tatsächlich schon ist, beweist d’Eramo nicht zuletzt mit einem Zitat von Stendhal über eine italienische Stadt, die noch heute sehr hoch im Tourismus-Kurs steht: „Florenz ist ein Museum voller Ausländer, die ihre eigenen Gepflogenheiten dorthin verpflanzen.“ Doch auch ein Kapitel über die Außenperspektive hält dieses Buch bereit; wie würden Außerirdische wohl unsere spontanen Massenwanderungen interpretieren? Nachdenklich und humoristisch, manchmal auch zynisch, aber immer sehr luzide beleuchtet der italienische Journalist alte und neue Reise(ge)lüste. Man darf sich ertappt fühlen!
Eva-Maria Mahr

Marco d‘Eramo
„Die Welt im Selfie“

Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters
362 Seiten
Suhrkamp Verlag
26,- Euro

Einer, der nicht aufgibt
Es gibt sie noch, die echten Revolutionäre: Einer davon ist Jean Ziegler. Er ist auch derjenige, der sich bewusst ist, wohin die Welt steuert und doch beständig neue Bäume pflanzt. Mittlerweile Mitte 80 kämpft er unverdrossen weiter, gegen die Machenschaften des Finanzkapitals und gegen die großen in der Politik, die seiner Meinung nach die vitalen Interessen ihrer Bürger aus den Augen verloren haben. Kraft findet er in den kleinen Siegen, die er errungen hat und seine Niederlagen lassen ihn nicht resignieren. Sein neues Buch ist zugleich auch ein Erinnerungsbuch, das wahrlich im Zeichen des Einsatzes für eine gerechtere Welt stand. Man kommt einfach nicht umhin, als Leser der „Institution“ Jean Ziegler seinen Respekt zu zollen, gerade in einer Welt, die dabei ist, aus den Fugen zu geraten. Nicht zu vergessen, dass er auch noch das Talent hat, seine Empathie literarisch bestens zu verarbeiten.
Thomas Mahr

Jean Ziegler
„Warum wir weiter kämpfen müssen“

Mein Leben für eine gerechtere Welt
320 Seiten
Pantheon Verlag
15,- Euro

Wir brauchen neue Dörfer
Wenn man als Leser davon absieht, dass in Ralf Otterpohls Buch „Das neue Dorf“ ein ums andere Mal der missionarische Ton überhandnimmt und das gute Leben auf dem Land gegenüber den Konsumtempeln der Städte zu sehr schwarzweißgemalt ist, bietet sein Aufruf, das Dorf neu zu denken, doch viele interessante Ansätze. Als anerkannter Wasserwirtschaftler hat er erkannt, dass in der Nahrungsmittelproduktion kleine Einheiten nicht nur beste Erträge bringen, sondern auch nachhaltig unsere ausgelaugten Böden schützen. Um das Sterben der Dörfer aufzuhalten, rät er den Städtern aufs Land zu ziehen und in visionär gedachten Gemeinschaften konträr zur derzeitigen Agrarmonokultur zu wirtschaften. So sieht er wohlorganisierte Kleinbetriebe in einer neuen Gemeinschaft als geeignetes Modell nachhaltig unsere Umwelt schützen und als besten Weg vom Irrweg der Lebensmittelindustrie wegzukommen.
Thomas Mahr

Rolf Otterpohl
„Das neue Dorf“

Vielfalt leben, lokal produzieren
180 Seiten
oekom Verlag
20,- Euro

Was für eine engagierte Diplomarbeit!
„Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Vernunft besitzt. Aber kein anderes Lebewesen würde jemals so unvernünftig sein.“ Diesen Gedanken des Künstlers Friedensreich Hundertwasser hat sich der junge Designer Michael Brose zum Leitmotiv gemacht und ein großformatiges Buch entworfen, das graphisch erklärt, in welchen Bereichen wir den Peak – den Scheitelpunkt – des Ressourcenverbrauchs schon überschritten haben. Ob es sich dabei um Massentierhaltung und industrielle Landwirtschaft oder Verkehr und Abfall handelt, in jedem Bereich, den das Buch anführt, sind wir an die Grenzen der Verträglichkeit gestoßen. Der Autor zeigt mit seinen sehr einleuchtenden Graphiken nicht nur deutlich, wie wir gegen Nachhaltigkeit beständig verstoßen, sondern am Ende jedes Kapitels, was Wirtschaft, Politik, aber auch jeder Einzelne für eine lebenswerte Zukunft leisten kann.
Thomas Mahr

Michale Brose
„Peak“

Von ökologischen Grenzen und nachhaltigen Perspektiven
128 Seiten
oekom Verlag
20,- Euro

Was, wenn der Zeigefinger zum autoritären Superlativ wird…?
Schon Nietzsche wusste in seiner Streitschrift ‚Genealogie der Moral‘ aufzuzeigen, dass moralische Phänomene immer ein kritisches Korrektiv benötigen, da sie ansonsten zunächst unbemerkt, aber sukzessive erfolgreich eine ideologische und dogmatische Wirkkraft entfalten. Moral ist Folge, Maske, Gift, Stimulans, Heilmittel, Tartüfferie, Hemmung, so Nietzsche. Alexander Grau schreibt diese Kritik der moralischen Werte bis in den gegenwärtigen Zeitgeist hinein fort, dem er ein ‚hypermoralisches‘ Gebaren attestiert. Im 21. Jahrhundert ist die Moral nicht länger Ausdruck und Mittel eines übergeordneten und normierenden Wertesystems; sie wird selbstbegründend: ‚Als moralisch gilt das, was aufgrund moralischer Erwägungen als moralisch gilt.‘ Wie diese fatale Spirale entstand, welche Auswirkungen sie auf Gesellschaft, Individuum und Institutionen hat und warum die Empörung mitnichten eine produktive Gefühlsregung ist, zeigt Grau in seinem sprachlich kurzweiligen und analytisch dichten Essay brillant auf.
Eva-Maria Mahr

Alexander Grau
„Hypermoral“

Die neue Lust an der Empörung
128 Seiten
Claudius Verlag
12,- Euro

Fünf Journalistinnen mischen sich ein
Es ist ja nicht so, dass wir gelähmt wie die Maus vor der Schlange, die da heißt Rechtspopulismus, sitzen und warten, was da auf uns zukommt. Besonders erfreulich ist es, dass vor allem junge Menschen sich wieder auf die Politik besinnen und sehen, dass unsere freiheitliche Demokratie nicht selbstverständlich ist. Gut, dass der Kunstmann Verlag fünf Journalistinnen gewonnen hat, die mit ihren in einem Buch gesammelten Beiträgen versuchen, Antworten zu finden auf die drängenden Fragen der Zeit. Die Texte beschränken sich aber nicht auf einer Analyse der Gegenwart, sie gehen weiter und sind Anregung, sich als Bürger bei den demokratischen Entscheidungsprozessen einzumischen. Verantwortung als Staatsbürger zu übernehmen verlangt ein fundiertes Urteil - jenseits der wütenden Frustration und den allgegenwärtigen Fake News.
Thomas Mahr

„Was tun“
Demokratie versteht sich nicht von selbst
112 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
10,- Euro

Im Hier und Jetzt
Im Silicon Valley ist ein neuer Megatrend im Kommen. Ausgerechnet dort, wo der Siegeszug des Digitalen gepredigt wurde, hält jetzt das Analoge Einzug. Und der Autor, der uns dies erzählt, ist nicht etwa ein in die Jahre gekommener Nostalgiker, nein, der in Toronto geborene Journalist David Sax hat die 40 noch nicht überschritten. Ganz zärtlich die Nadel auf die Platte legen, um ein Jazzalbum zu hören, stundenlang in einer Buchhandlung zu stöbern, um dann auf die Empfehlung des Buchhändlers einen unbekannten aber großartigen Roman zu entdecken. Nur zwei Beispiele, wie Sax das Loblied auf das Analoge anstimmt, um das zur Ruhekommen, das sich Bewusstwerden nicht zu vergessen, wenn das Smartphone mal zu Hause bleibt. Sax erzählt im wohltuenden Plauderton und resümiert, wie sich in der digitalen Welt das Analoge seinen Platz zurückerobert. Für ihn schließt das eine das andere nicht aus.
Thomas Mahr

David Sax
„Die Rache des Analogen“

Warum wir uns nach realen Dingen sehnen
316 Seiten
Residenz Verlag
24,- Euro


Einblick in den Islam
Der Kulturwissenschaftler Gerhard Schweizer wirbt mit seinen beiden Büchern für ein besseres Verständnis des Islam. Er leugnet nicht den tiefgreifenden Konflikt zwischen Orient und westlicher Welt. Doch zeigt er auch, wieviel die beiden Kulturen verbindet und dass im Mittelalter das Osmanische Reich an Toleranz und Fortschrittlichkeit dem damaligen Europa um einiges voraus war. Woher kommt aber dieser islamistische Fundamentalismus in seiner Radikalität und seinem Feindbild der westlichen Demokratien? Natürlich liegt die Problematik in der inneren Zerrissenheit und Spaltung der islamischen Völker begründet. Doch kommt auch der Anteil Amerikas und Europas an diesen Konflikten zur Sprache. Das Buch über den Islam ist ein wichtiger Beitrag, um in der emotional geführten Diskussion der Vernunft wieder mehr Raum zu verschaffen. Der derzeitige Kulminationspunkt der Konflikte in der islamischen Welt ist Syrien. Auch hier erklärt Schweizer sehr genau die historischen Hintergründe, indem er auf das Land blickt, das wie kein anderes im Orient von den verschiedensten kulturellen Einflüssen durchzogen ist. Wie die Jahresringe eines Baumes lassen sich in der syrischen Geschichte die Wechsel der verschiedensten Machthaber herauslesen.
Thomas Mahr

Gerhard Schweizer
„Islam verstehen“

Geschichte, Kultur und Politik
610 Seiten
Klett-Cotta Verlag
9.95 Euro


Gerhard Schweizer
„Syrien verstehen“

Geschichte, Kultur und Politik
519 Seiten
Klett-Cotta Verlag
9,95 Euro

Jute statt Plastik
Seit dem 1. April 2016 sind Plastiktüten im Einzelhandel kostenpflichtig. Die Tüten, die wir innerhalb des ersten Monats ausgegeben haben lassen sich zwar nicht an einer, aber immerhin an zwei Händen abzählen und statt Ärger gab es jede Menge gute Gespräche mit Kunden. Völlig auf Plastik zu verzichten schaffen wohl nur die Wenigsten von uns, aber ein bewussterer Umgang mit dieser wertvollen Ressource tut wahrlich Not. Anneliese Bunk und Nadine Schubert liefern mit ihrem Ratgeber viele Tipps und Tricks, um Plastik im Alltag zu vermeiden; nicht nur beim großen Thema Einkaufen, auch bei Pflege- und Reinigungsprodukten, die es ja häufig nicht unverpackt gibt, lässt sich einiges an Verpackung einsparen, ganz einfach, indem man selbst tätig wird – die Rezepte in diesem Buch machen es möglich!
Anna Kalmbach

Anneliese Bunk und Nadine Schubert
„Besser leben ohne Plastik“

Tipps und Rezepte, die zeigen, wie es anders geht
108 Seiten
Oekom
12,95 Euro

Insektenliebe
Mit seinem Buch über die Hummel hat der englische Naturschützer und Biologe Dave Goulson überraschend viele Leser gewonnen. Jetzt hat er sein Forschungsgebiet auf die gesamte Insektenwelt ausgedehnt. Sicherlich stand ihm da der Naturforscher Jean Henri Fabre ein wenig Pate, der vor mehr als 100 Jahren die Beobachtung der Insekten zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Wie sein Vorbild lebt der englische Entomologe auch in Südfrankreich, dem idealen Terrain für diese Forschung. Mit leidenschaftlicher Ausdauer und wissenschaftlicher Akribie, doch in einem wunderbaren Plauderton und nicht ohne britischen Humor, bringt er uns das Leben der Insekten näher. So zum Beispiel das Liebesleben der Libellen, die manchmal tagelang aneinander hängend beim Fortpflanzungsakt durch die Lüfte fliegen; oder von der Gottesanbeterin, die bei Erledigung jener Tätigkeit den Begatter verspeist. Am Ende des Buches wird das Thema ernster; er thematisiert das Artensterben. Er kritisiert den weltweiten Einsatz von Pestiziden und die zunehmende Monokultur, die mit modernster Agrartechnik allem, was kreucht und fleucht, den Garaus macht.
Thomas Mahr

Dave Goulson
„Wenn der Nagekäfer zweimal klopft“

Das geheime Leben der Insekten
320 Seiten
Hanser Verlag
21,90 Euro

Von den Pflanzen lernen
Der Biologe Stefano Mancuso und der Gründer von Slow Food Carlo Petrini haben auf gerade mal 100 Seiten ein grandioses Buch über den guten Geschmack geschrieben. Mit ihrem Gespräch bringen sie die Kritik an der Agrarwirtschaft und der industriellen Lebensmittelproduktion auf den Punkt. Köche und Bauern müssen sich zusammentun und mit einer nachhaltigen Landwirtschaft dem Wahnsinn der Überproduktion Einhalt gebieten, denn 40 Prozent unserer Lebensmittel landen im Müll. Für die beiden Autoren ist das ständige Wachstum nicht die Lösung für den Hunger auf der Welt. Im Gegenteil - in Asien werden wertvolle Ackerflächen vernichtet, um dort in antibiotikaverseuchten Wasserbecken Garnelen zu züchten, damit diese möglichst billig in den Kühltruhen europäischer Supermärkte landen. So wurde aus etwas Exklusivem ein Massenprodukt. Die beiden Italiener lamentieren aber in ihrem Buch nicht nur, sie erzählen geistreich von der Pflanzenwelt und was wir von ihr lernen können. Einiges aus diesem Buch zu Herzen genommen kann nicht nur uns, sondern auch die Welt zum Besseren verändern.
Thomas Mahr

Stefano Mancuso, Carlo Petrini
„Die Wurzeln des guten Geschmacks“

Warum sich Köche und Bauern verbünden müssen
112 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
10,- Euro

Zwischen Landflucht und Landlust
Wie kommt es, dass auf der einen Seite das Landleben solch eine Hochkonjunktur erlebt (was schon allein die Fülle und der Erfolg diverser Zeitschriften zeigt) aber andererseits auch bei uns im Land, in der Eifel oder im Osten Deutschlands, Dörfer sterben? Gerhard Henkel, Professor für Geographie und der „Dorfforscher“, hat mit seinem Buch über diesen Widerspruch nachgedacht. Er ergreift in seinem umfangreichen und reich bebilderten Werk eindeutig Partei für das Dorf, ohne es dabei zu verklären oder gar die Schattenseiten auszublenden. In aller Ausführlichkeit taucht er ein in die Geschichte dieser Siedlungsform, von der Frühzeit bis heute, und würdigt dabei den Beitrag der Kultur des Landlebens in der europäischen Geschichte. In der Gegenwart angekommen, kritisiert der Autor die Gebietsreform, die mit der Schaffung zentraler Orte manchen Dörfern das lokale Selbstverständnis, ja die Seele, genommen hat.
Thomas Mahr

Gerhard Henkel
„Das Dorf“

Landleben in Deutschland – Gestern und Heute
344 Seiten
Theiss Verlag
24,95 Euro